Der Nachbar
Bestes, um die um sie herum zu schützen – größtenteils junge Mädchen, die an den Rand der Zusammenballung geflohen waren, weil sie glaubten, dort sicher zu sein –, aber es wurde immer schwieriger. Sie hatte sich heiser geschrien in dem Bemühen, die Leute in der Mitte auf ihre Notlage aufmerksam zu machen, aber ihre Stimme war im Gebrüll der Jugendlichen untergegangen.
Nachdem sie in ihrer Besorgnis um Melanie unzählige Male vergeblich versucht hatte, ihre Tochter über Handy zu erreichen, drückte sie einem Mädchen, das neben ihr an die Mauer gequetscht stand, den Apparat in die Hand und bat sie, die Wiederholungstaste so lange zu drücken, bis sich jemand meldete. »Gib es mir zurück, wenn es läutet«, sagte sie, die Kleine mit ihrem Körper abschirmend. Sie versuchte, die Aufmerksamkeit eines vielleicht zwanzig Meter entfernten Mannes auf sich zu ziehen, der groß und kräftig genug wirkte, um sich zu ihnen durchdrängen zu können, aber ihre Hilferufe stießen auf taube Ohren.
Erschöpft und den Tränen nahe, gab das kleine Mädchen nach zehn Minuten auf. »Es hat keinen Zweck«, rief sie. »Es meldet sich niemand.« Von plötzlicher Klaustrophobie überwältigt, begann sie, mit Fäusten auf Gaynor einzutrommeln. »Ich will hier raus!«, schrie sie. »Lasst mich hier raus!«
Gaynor schlug ihr hart ins Gesicht. »Tut mir Leid, Schätzchen«, murmelte sie und schloss das Kind in die Arme, als dieses zu schluchzen begann. »Aber es ist zu gefährlich. Du musst hier bleiben, bis ich eine Lösung finde.« Aber wie, um Gottes willen?
Da begann das Handy zu bimmeln.
Sie entriss es dem kleinen Mädchen und drückte die Hand auf ihr freies Ohr, um in dem Getöse überhaupt etwas hören zu können. »Mel? Bist du's, Schatz? Ich versuche ständig, dich zu erreichen. Ist bei dir alles in Ordnung? Was ist mit Rosie und Ben?«
»Mrs Patterson?«
»Ach, Scheiße!«, fluchte Gaynor enttäuscht, nun selbst den Tränen nahe. »Ich hab gedacht, es wäre meine Tochter.«
»Ach, das tut mir Leid. Hier spricht Jennifer Monroe vom Nightingale Health Centre. Briony hat mir Ihre Nummer gegeben. Ich muss unbedingt sofort mit Ihnen sprechen. Es ist sehr dringend.«
Gaynor schüttelte ungläubig den Kopf. »Das soll wohl ein Witz sein? Hören Sie, ganz gleich, was es ist, es kann warten. Nichts ist so dramatisch wie das, was hier gerade abläuft. Hier geht's drunter und drüber, und von der Polizei ist keine Spur zu sehen... Ich bin mit ein paar Kindern, die Todesangst haben, an einer Hausmauer eingeklemmt. Es ist wie im Hillsborough Stadion! Allein hier in dieser Ecke sind bestimmt über tausend Leute zusammengequetscht. Ich leg jetzt auf. Okay?«
»Nein! Nicht!«, sagte Jenny Monroe scharf. »Ich weiß wahrscheinlich im Moment mehr als Sie. Bitte bleiben Sie am Telefon. Reden Sie mit mir. Es geht nicht um eine medizinische Angelegenheit, Gaynor. Ich möchte Ihnen helfen. Die Polizei kommt nicht in die Siedlung rein, weil alle Zufahrtsstraßen blockiert sind. Das heißt, Sie und Melanie müssen selbst für Ihre Sicherheit sorgen, und ich kann Ihnen vielleicht dabei helfen.«
»Dann los!«
»Können Sie mir sagen, wo Sie im Augenblick sind?«
»In der Humbert Street!«
»Und wo genau? Sie sagten, dass Sie an einer Wand eingeklemmt sind.«
»Gleich vorn, Hausnummer neun. Wir haben an die Tür getrommelt wie die Verrückten, aber die Frau drinnen ist wirr im Kopf und macht nicht auf... Sie hat wahrscheinlich Angst, die arme alte Seele.«
»Wissen Sie ihren Namen?«
»Carthew.«
»Okay, warten Sie. Ich seh mal nach, ob wir sie auf unserer Liste haben.« Einige Sekunden lang blieb es still. »Ich hab sie. Sie ist eine Patientin von Sophie Morrison und gehört zu den
Hallo-Freundschaft
-Leuten.« Wieder eine Pause, im Hintergrund gedämpfte Stimmen. »Also, passen Sie auf, Gaynor, unser Plan sieht folgendermaßen aus: Ich rufe jetzt Mrs Carthew an, und während ich das tue, sprechen Sie mit einem Polizeibeamten, der hier bei uns in der Praxis ist. Er hat unser Gespräch mitgehört und wird Ihnen genau erklären, was Sie tun müssen, wenn Mrs Carthew die Tür öffnet.«
»Das ist doch reine Zeitverschwendung, Schätzchen. Die alte Carthew ist seit Jahren total verkalkt.«
»Versuchen wir's einfach mal, okay?«
Eine neue Stimme meldete sich. »Hallo, Gaynor. Ken Hewitt hier. Also, wichtig ist vor allem, dass keine Panik ausbricht. Denn dann werden sofort alle nachdrängen, wenn die Tür aufgeht, und das ist so
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