Der Nachbar
knappen Worten berichtete Harry, was er wusste. »Ich wollte erst mit Ihnen sprechen, ehe ich Sophies Eltern anrufe... Ich denke, es ist sowieso besser, wenn Sie mit ihnen reden.« Er wartete ab, bis Bob ihm das zusagte. »Gut. Wir brauchen noch in einem anderen Punkt Ihre Hilfe. Wie Jenny sagt, achtet Sophie immer gewissenhaft darauf, dass ihr Handy geladen ist, wir vermuten deshalb, dass sie es ausgeschaltet hat, um diese Männer nicht merken zu lassen, dass sie eines hat. Das heißt, die Chancen stehen gut, dass sie wieder anruft, sobald sich eine Gelegenheit bietet... und ich würde mich wohler fühlen, wenn ich jemanden hier hätte, der die nötigen Voraussetzungen besitzt, um mit diesen Leuten zu sprechen und Sophies Freigabe auszuhandeln.«
»Ich fahre sofort los«, sagte Bob. »Ihre Eltern rufe ich von unterwegs an.«
»Ich weiß nicht, ob uns die Zeit bleibt, auf Sie zu warten«, sagte Harry hastig. »Wir brauchen jemanden, der näher dran ist. Für die Polizei kam die ganze Sache völlig überraschend – sie behaupten, so etwas habe man nicht voraussehen können, die Krawalle seien aus heiterem Himmel losgebrochen –, und sie sind durch die Fahndung nach dem kleinen Mädchen, das hier in der Nähe verschwunden ist, personell völlig überlastet. Bei uns ist ein junger Constable, der versucht, uns zu helfen, aber im Moment kann er nicht einmal die Bewährungshilfe erreichen. Hier ist wirklich die Hölle los. Es wäre eine große Hilfe, wenn wir den Psychiater ausfindig machen könnten, der das Prozessgutachten über Zelowski abgegeben hat, oder sonst jemanden, der ihn regelmäßig gesehen hat, während er im Gefängnis war. Ich kann Ihnen die Namen der beiden Anstalten geben, in denen er seine Strafe verbüßt hat. Sie sind beide in der Gegend. Würde Ihnen das helfen, einen Namen für mich ausfindig zu machen? Oder, besser noch, mir eine Kopie des Gutachtens zu besorgen?«
Bob verschwendete keine Zeit. »Her mit dem Namen«, sagte er. »Und geben Sie mir auch gleich Ihre Telefon- und Faxnummern in der Praxis. Ich melde mich, sobald ich etwas für Sie habe.« Er schwieg, legte aber nicht auf, sondern sagte nach einem Moment: »Harry?«
»Ja?«
»Wenn sie anruft, bevor ich da bin, sagen Sie ihr, sie soll die beiden nicht provozieren – vor allem nicht den Mann, den sie für einen Vergewaltiger hält. Wenn er so gefährlich ist, wie Sie vermuten, wird ihn das nur erregen.«
Vor dem Haus Humbert Street 9
Gaynor Patterson hatte Todesangst. Sie war eingeschlossen, konnte weder vor noch zurück. Hatte keinen Zentimeter Bewegungsfreiheit. Im Rücken die Mauer eines Hauses in der Humbert Street, vorn und zu beiden Seiten drängende, drückende Menschenmassen, die versuchten, sich zwischen den Häusern und den am Bordstein parkenden Autos auf den Beinen zu halten. Die Mitte der Straße hinunter stürmten Pulks grölender Jugendlicher, die den Spaß vor Haus Nummer 23 nicht versäumen wollten, und lösten mit jedem Stoß und Puff ihrer kräftigen Körper in der umgebenden Menge eine kompensatorische Wellenbewegung aus, die weiteres Zurückweichen bedeutete.
Kleinere Jungen hatten sich auf die Dächer und Motorhauben von Autos geflüchtet, aber das war eine unsichere Zuflucht. Jedes Mal, wenn eine Menschenwoge gegen die Fahrzeuge brandete, gerieten diese ins Schwanken und drohten zu kippen. Es würde, dachte sie voll Angst, sicher nicht mehr lange dauern, bis irgendwelche Rowdys in der Menge auf die Idee kamen, die Wagen umzustoßen und sie, sobald sie sie auf dem Dach hatten, wie die Kreisel zu drehen. Spätestens dann würde es Verletzte geben.
Vor fünf Minuten hatte sie in höchster Verzweiflung auf ihrem Handy die 999 angewählt, aber die Computeransage, der zufolge sämtliche Notrufleitungen von Anrufern besetzt waren, die Unruhen in Bassindale meldeten, hatte ihre Angst nur verstärkt. Die Polizei, hatte es geheißen, könne derzeit nicht eingreifen. Anrufer, die aus anderen Gründen den Notruf gewählt hatten, sollten in der Leitung bleiben. Den Bewohnern von Bassindale gab man den guten Rat, in ihren Häusern zu bleiben, so weit sie nicht in die Unruhen verwickelt waren.
Gaynor, die Aufnahmen von der Katastrophe im Hillsborough Stadion gesehen hatte, als Fußballfans von den in Panik geratenen Massen hinter ihnen erbarmungslos erdrückt worden waren, fürchtete, dass eine plötzliche heftige Wallung der Menge den Menschen an der Wand die Luft nehmen würde und diese ersticken müssten. Sie tat ihr
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