Der Nachtelf (German Edition)
Kraftlos sackte ihr der Kopf auf die Brust. Mehr zu sich selbst fügte sie hinzu: »Es ist ohnehin einerlei. Sie werden bereits dabei sein, alles zu protokollieren.«
»Nein«, widersprach ihr Gehilfe. »Das tun sie nicht. Als Ihr aus dem Turm tratet, war da so ein Ausdruck in Euren Augen, als ob Ihr leibhaftig in den Abgrund geblickt hättet. Da Ihr uns mit keinem Wort erklären wolltet, was sich ereignet hatte, habe ich vorsichtshalber den Capitalprotektoren Anweisung gegeben, dass das Gebäude auf keinen Fall betreten werden dürfe und strengstens zu bewachen sei.«
»Das habt ihr?« Ein Funke der Hoffnung glomm in ihr auf. Wenn niemand von dem Vorfall wusste, konnte sie auch niemand zur Verantwortung ziehen. Aber das minderte nicht im Geringsten ihre Schuld vor den Göttern. »Ihr habt richtig gehandelt«, sagte sie, »auch wenn es nichts nützen wird.«
Valenuru sah sie aufmerksam an.
»Was ich getan habe, kennt keine Entschuldigung und keine Gnade vor den Göttern.«
Der Capitaloberobservator ging in die Hocke, um ihr direkt ins Gesicht sehen zu können. Als er seine Frage stellte, betonte er jeden Laut überdeutlich: »Was habt Ihr getan?«
Dadalore flüsterte nur noch. »Ich möchte nicht darüber sprechen.«
»In Ordnung.« Irritiert stellte sie fest, dass er sich erhob. Es erweckte ganz den Anschein, als ob die Sache für ihn mit schwer zu fassender Plötzlichkeit erledigt sei. Er kehrte zu seinem Schreibtisch zurück, hielt auf halber Strecke noch einmal inne und fragte: »Aber ich gehe doch recht in der Annahme, dass Ihr es gerne ungeschehen machen würdet?«
»Ich würde mein Leben geben, um es ungeschehen zu machen.«
Valenuru runzelte die Stirn. Es war ein Ausdruck der Missbilligung, wie sie ihn noch nie bei ihm beobachtet hatte. Doch verschwand der Eindruck so rasch, wie er gekommen war, und zurück blieb nur sein glattes, hübsches Gesicht. »Somit hätten wir das ja geklärt. Ich habe noch ein paar Ermittlungen durchzuführen, Ihr wisst ja, das Verbrechen ruht nicht. Ich will mich noch kurz mit Bamulaus beratschlagen und mache mich dann auf den Weg. Wenn Ihr derweil ein wenig Aufmunterung sucht, lest doch das hier!« Er fischte einen Stapel Pergamente auf und warf ihn ihr auf den Schoß.
Dadalore überflog die oberste Seite: Die Untersuchung des toten Priesters Ankubu war nun abgeschlossen. Die seltsame Verwandlung hatte offenbar keine überprüfbaren Spuren zurückgelassen. Todesursache war eindeutig der Kehlenschnitt.
Sie blätterte weiter. Das war das Protokoll von Valenurus Vernehmung der Hure. Das sollte ihr Aufmunterung bedeuten? Was für eine Geschmacklosigkeit erlaubte er sich? Dadalore sah auf.
Er war fort.
Sie hatte gar nicht gehört, wie die Tür zufiel.
Vielleicht war es besser so. Sie hätte ihm nur wieder unbeherrscht Dinge an den Kopf geworfen, die ihr später leid taten. Schließlich meinte er es eigentlich gut mit ihr. Nicht jeder hätte ihr einen so gut wirkenden Lakaien gegeben.
Dadalore rutschte auf die Knie hinab und sammelte die Scherben auf. Ganz vorsichtig ging sie zu Werke, damit sie sich nicht schnitt. Sie ging auf den Hof und warf die Bruchstücke zu dem großen Kehrichthaufen in die Ecke.
Als sie zurückkehrte, griff sie wieder nach dem Protokoll und nahm an ihrem Schreibtisch Platz.
Die Erinnerung an die schrecklichen Ereignisse im Turm war noch da. Aber sie wirkte seltsam fern, als ob das Ereignis nicht eine Stunde, sondern viele Jahre zurückläge. Und sie war gedämpft; dicke Schichten Stoff schienen zwischen ihr und dem Geschehenen zu liegen. Ob Valenuru ihr wirklich einen Brüllaffen gegeben hatte? Sie hätte die Abbildung auf den Tonscherben suchen können, aber sie verspürte wenig Begeisterung bei dem Gedanken, den Müll zu durchwühlen.
Also das Protokoll. Dadalore überflog die Zeilen in Valenurus schwungvoller und eleganter Schrift: Marmaras Aussage zu Ghalikans Übergriff. Das waren die Äußerungen, die sie kannte, etwas ausführlicher und mit verschiedenen Details festgehalten, was die Glaubwürdigkeit unterstrich.
Dadalore stutzte.
Sie las den letzten Satz zum zweiten Mal. Es bestand kein Zweifel daran, dass diese Aussage ganz erheblich von dem abwich, was Marmara ihnen erzählt hatte. Das konnte doch wohl nicht Valenurus Ernst sein! Sie las den Satz zum dritten Mal:
Daraufhin stieß Ghalikan die Tür auf und dahinter wartete bereits, hämisch feixend, Patmelu-Wer-vergibt-versagt, der mir gierig auf den entblößten Leib starrte.
Was,
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