Der Nachtwandler
geöffnete Mund in Reichweite seiner Lippen.
»Hübsch«, kommentierte Kroeger lakonisch. »Aber überspringen wir die ersten zwanzig Schnappschüsse. Mir geht es nicht um Ihre Freizeitgestaltung, sondern um das hier.«
Der Kommissar gab ihm das Handy zurück, nachdem er zu einer der letzten Aufnahmen im Speicher gescrollt hatte. Leons Pupillen weiteten sich.
»Das ist privat«, sagte er mit versagender Stimme.
»Ich weiß. Aber glauben Sie mir, ich wäre nicht hier, wenn es nur um Ihre sexuellen Vorlieben ginge.«
Das schlecht ausgeleuchtete Foto war ohne Blitz geschossen und zeigte Natalie mit dem Rücken an dem gepolsterten Wandteil ihres Doppelbetts sitzend. Ihre Beine waren zum Schneidersitz verschränkt, die Arme streckte sie über dem Kopf weit von sich wie eine Gekreuzigte, die sie in gewisser Weise auch war, denn ihre Handgelenke steckten in Ledermanschetten, die wiederum mit Ketten an den Bettpfosten fixiert waren. Sie trug ein am Schlüsselbein eingerissenes Männerunterhemd, das mehr preisgab, als dass es verhüllte, denn es war über den Brüsten entweder nass oder durchgeschwitzt, jedenfalls konnte man die erigierten Warzen trotz der schlechten Aufnahmequalität mühelos erkennen.
Leon schämte sich, und das war ein neues Gefühl, nach all den Sorgen, der Angst und Panik, unter der er die letzten Stunden gelitten hatte. Dabei war das Problem nicht, dass Kroeger in ihre Intimsphäre eingedrungen war und jetzt Kenntnis von den geheimsten sexuellen Phantasien seiner Frau hatte. Das Problem war, dass Leon das Bild noch nie zuvor im Leben gesehen hatte. So wie alle anderen, die Kroeger ihm noch zeigen sollte.
Auf Geheiß des Polizisten öffnete er die nächsten drei Bilddateien, eine schlimmer als die andere.
Auf dem ersten war Natalie komplett nackt. In ihrem Mund steckte ein Gummiball. Auf dem nächsten schienen ihr die Augen aus den Höhlen zu quellen, so fest war das Hundehalsband geschnürt. Doch der eigentliche Schock kam mit dem letzten Foto der unbekannten Serie, aufgenommen vor drei Tagen, um 3.04 Uhr morgens.
Als ich geschlafen habe …
Hätte man Natalies Gesichtsausdruck zuvor mit Mühe noch als sexuell erregt auslegen können, stand ihr jetzt der nackte Schmerz in den Augen. Sie blutete aus dem geschlossenen Mund, das rechte Auge war geschwollen, und wenn Leon sich nicht täuschte, war auch ihr Daumen verletzt.
»Können Sie mir dazu etwas sagen?«, fragte der Kommissar.
»Nur, dass Sie das nicht im Geringsten etwas angeht.«
»Das wird sich zeigen.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Leon, der mit einem Mal ganz sicher war, dass er diesem Mann auf gar keinen Fall das Tor zum Labyrinth zeigen würde. Zu groß war seine Angst vor der Selbsterkenntnis.
Was habe ich Natalie nur angetan?
»Sie können Bilder sammeln, wie Sie wollen«, sagte Kroeger. »Meinetwegen können Sie an den Hoden verknotet vom Ventilator hängen. Wie ich vorhin schon sagte, Herr Nader, die Polizei ist nicht dafür da, sich in Eheangelegenheiten einzumischen. Aber man muss nicht Ermittler des Monats sein, um zu riechen, dass hier etwas nicht stimmt. Ihre Frau ist verschwunden, kurz nachdem diese Bilder gemacht wurden.«
Leon tippte mit dem Daumen auf das erloschene Handydisplay und fragte: »Hätte ich die Polizei angerufen, wenn ich etwas Verbotenes getan hätte?«
Kroeger lachte kehlig und wandte sich zum Gehen. »Sie glauben gar nicht, wie dumm die meisten Verbrecher sind, mit denen wir es zu tun haben.«
Leon folgte ihm in den Flur und wurde nervös, als der Polizist in die falsche Richtung ging, zum Schlafzimmer, dessen Tür halb offen stand.
»Hier geht es raus«, sagte Leon etwas zu drängend. Der Beamte stoppte abrupt.
»Wollen Sie mich loswerden?«
»Nein. Nur nicht in die falsche Richtung laufen lassen.«
Kroeger sah Leon mit zusammengekniffenen Brauen in die Augen, dann drehte er sich langsam zur Schlafzimmertür zurück.
»Also schön …«, sagte er bedrohlich und griff in die Innenseite seines Mantels. Leon war sich sicher, Kroeger würde ein Paar Handschellen oder eine Waffe hervorziehen, aber es war lediglich eine Brieftasche.
»Im Moment haben Sie nur gegen die guten Sitten verstoßen, Herr Nader. Werten Sie meinen Besuch daher einfach als Warnung. Ab sofort liegen die besonderen Gründe vor, die mich Ihre Vermisstenanzeige ernst nehmen lassen. Und während wir nach Ihrer Frau suchen, werde ich Sie im Auge behalten.«
Er reichte Leon eine Visitenkarte.
»Bitte tun Sie sich selbst
Weitere Kostenlose Bücher