Der Nachtwandler
künstlichen Holzstapel aus dem Kamin, dann das Gefäß mit dem Brennmittel und riss ein Streichholz an. Die gelbe Flamme offenbarte eine rußverschmutzte, rissige Innenoberfläche des Kaminofens, und als Leon den Kopf in die Öffnung steckte, musste er an das Märchen von Hänsel und Gretel denken, in dem die böse Hexe in ihrem Ofen verbrennt, nachdem Gretel sie mit einer List dort hineingelockt hatte. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, und er musste sich noch einmal vergewissern, dass er alleine war und niemand hinter ihm stand, der ihn beobachtete.
»Es hat Augen, wissen Sie? Das Haus, meine ich«, erinnerte er sich an die kryptischen Worte der alten Helsing, die wahrscheinlich in diesem Moment ein Stockwerk unter ihm vor dem Kamin saß und Selbstgespräche führte.
Nachdem das erste Streichholz zwischen seinen Fingern abgebrannt war, ohne dass er etwas entdeckt hatte, entzündete er ein zweites und ging etwas systematischer vor.
Dichter, schmieriger Ruß, Reminiszenz aus Tagen, in denen sich die Vorbesitzer noch an einem intakten Rauchabzug erfreut hatten, legte sich als Film auf seine Finger, während Leon Zentimeter um Zentimeter den Untergrund abtastete, in der Hoffnung, eine Vertiefung, eine Rille oder sonst eine Besonderheit zu finden, die auf ein Geheimfach oder Ähnliches schließen ließ.
Nachdem er den Boden und die Wände der Kaminkammer vergebens abgetastet hatte, kontrollierte er die Rauchklappe des Schornsteins, die den Abzug verschloss und die sich merkwürdigerweise nicht per Hand öffnen ließ.
Leon musste die Kaminzange zu Hilfe nehmen, um sie von innen aufzudrücken, und kaum hatte er das mit einiger Mühe getan, fiel ihm das Hindernis vor die Füße, das den Abzug verklemmt hatte.
»Was zum Teufel …?«
Er wich vor dem kleinen Paket zurück, als wäre es eine gefährliche Schlange. Nach einer Schrecksekunde bückte er sich, um den in einer Plastiktüte eingewickelten Gegenstand aufzuheben, der sich wie ein schweres Buch anfühlte.
Abgestandener, kalter Rauch stieg ihm in die Nase, und als er die Verpackung entfernt hatte, erkannte er, dass Dr. Volwarth ihn zu einem der wohl intimsten Dokumente geführt hatte, die Natalie in ihrem Leben verfasst hatte.
Ihr Tagebuch war nicht sehr dick, es umfasste maximal einhundert Seiten, die in einem starren Einband gebunden waren. Nur wenige von ihnen waren beschrieben, wie Leon feststellte, nachdem er sich den Ruß notdürftig von den Fingern gewischt und sich auf den Sessel neben der Couchgarnitur gesetzt hatte, um das Fundstück zu untersuchen.
In der Regel bestanden die handschriftlichen Einträge nur aus ein, zwei Sätzen, die hin und wieder mit einer Zeichnung oder einem Foto illustriert waren.
Leon fühlte sich noch schäbiger als gestern, als er Natalies Fotolabor durchsucht hatte. Indem er nun auch noch ihre Tagebuchnotizen las, überschritt er eine weitere Grenze und drang in verbotenes Sperrgebiet vor.
Soll ich ihn verlassen?, hatte Natalie ihr Tagebuch gefragt. Der in ihrer typischen, wie gemalten Handschrift verfasste Eintrag war auf den 28. Februar datiert, knapp zwei Monate nach ihrem Einzug.
Ich dachte, wir wären Seelenverwandte. Doch manchmal erkenne ich ihn nicht wieder. Fast so, als hätte er ein zweites Gesicht.
Leon schluckte schwer, seine Fingerspitzen wurden taub. Er überblätterte einige belanglose Einträge, die von Problemen oder Erfolgen in der Galerie und dem bevorstehenden Geburtstag ihres Vaters handelten und dass sie nicht wisse, was sie ihm schenken sollte.
Dann, Anfang Juni, stieß er auf ein eingeklebtes Foto, über dessen Bedeutung es keinen Zweifel geben konnte, und dennoch versuchte Leon mehrere qualvolle Sekunden, eine andere Erklärung zu finden als die, die so offensichtlich war. Vergeblich.
Dass er das Ultraschallbild nicht kannte, war ein Tiefschlag, und Natalies Eintrag machte es noch schlimmer.
Was soll ich nur tun? Ich will es nicht behalten. Ich KANN es nicht.
»Sag mir, dass das nicht wahr ist«, sagte Leon, wobei er die Worte kaum hervorbrachte. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Er blätterte weiter, Seite um Seite, mit jedem neuen Datumseintrag ängstlicher, auf die erwartete Nachricht zu stoßen, bis er sie zwei Wochen später fand, gerade noch rechtzeitig vor dem Ablauf des ersten Schwangerschaftstrimesters.
Leons Augen füllten sich mit Tränen.
Termin in der Klinik war schrecklich. Hoffe nur, Leon erfährt niemals die Wahrheit.
»Nein!«
In seinem Innersten zerbrach etwas
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