Der Nachtwandler
in tausend Einzelteile, die sich nie wieder zu einer funktionierenden Einheit zusammensetzen lassen würden.
»Aber wieso?«, flüsterte er.
Wir haben das Kind doch so sehr gewollt.
In diesem Moment wünschte er sich, Dr. Volwarth hätte sich an seine Schweigepflicht gehalten. Diese Wahrheit hatte er niemals erfahren wollen. Er hatte gehofft, der Psychiater verfügte über Informationen, die ihm Natalie wieder zurückbrachten. Und jetzt fühlte sich Leon weiter von ihr entfernt als jemals zuvor.
Es war richtig, ihm nichts zu sagen. Es wird immer schlimmer mit ihm, las er, einige Wochen später, jetzt ebenso aufgewühlt und zittrig wie Natalies Schriftbild.
Ihre Schrift wirkte gehetzt, brüchig. Nicht mehr so akkurat und künstlerisch, wie er sie von den Notizen kannte, die sie ihm oft am Kühlschrank hinterlassen hatte.
Aber das war früher gewesen, und früher war endgültig vorbei.
Ich habe Angst, hatte Natalie auf einer der letzten Seiten notiert, und das schrecklichste Wort im Satz doppelt unterstrichen. Er tut mir so weh . Das war alles ein schrecklicher Fehler. Ich muss ihn verlassen.
»Unsere Ehe? Ich? Das Kind? Alles ein Fehler?«
Leon schlug erst das Tagebuch und dann die Augen zu.
Nichts sehen. Nichts fühlen. Alles vergessen.
»Bin ich daran schuld, was ihr zugestoßen ist?«
Von der Abtreibung bis zu ihrem Verschwinden?
Leon wusste, wie merkwürdig er sich verhielt, wenn er weiter mit dem Tagebuch in der Hand Selbstgespräche führte, aber er konnte nicht anders.
»Was habe ich nur getan?«
Kaum hatte er die Worte laut ausgesprochen, fühlte er sich unsagbar müde und schläfrig, und dadurch wurden ihm zwei Dinge auf einmal bewusst: Weitere Enthüllungen würde er nicht verkraften. Wenn es nicht schon geschehen war, würde er endgültig den Verstand verlieren, sollte er noch länger in dieser Wohnung alleine bleiben.
Und er hatte die falsche Frage gestellt. Entscheidend war nicht, was er in der Vergangenheit getan hatte, sondern was er noch alles tun würde, um sich oder anderen Schaden zuzufügen.
Ich darf nicht einschlafen, dachte er und ging ins Badezimmer, um sich mit kaltem Wasser das Gesicht zu waschen. Nicht, bevor ich die ganze Wahrheit kenne.
Dann fasste er einen Entschluss, dessen Umsetzung damit begann, die Haustür zu kontrollieren, um sicherzugehen, dass er sie nach Kroegers Abschied auch richtig verschlossen hatte. Normalerweise ließ er den Schlüssel stecken, wenn er zu Hause war, doch jetzt zog er ihn ab, um ihn griffbereit bei sich zu tragen.
Leon wusste, wie lächerlich diese Sicherheitsvorkehrungen waren, in einem Haus, in dem man auf versteckte Türen hinter seinen Schränken stieß, aber er überprüfte auch noch die Fenster und durchsuchte jeden einzelnen Raum, bevor er sich in sein Wohnzimmer setzte und Hilfe rief.
25.
W o zum Teufel steckst du?«, fauchte Sven mit der Stimme eines Mannes, der viel lieber brüllen würde und sich nur mit größter Mühe beherrschen konnte.
»Das Gleiche wollte ich dich fragen, ich hab schon mehrfach versucht, dich zu erreichen.«
»Diese Mühe hättest du dir sparen können, wenn du mich wie verabredet auf die Party begleitet hättest.«
An der Tatsache, dass Svens Worte sich nur schleppend von seinen Lippen lösten, merkte Leon, wie erregt sein Freund und Geschäftspartner war. In der jüngeren Vergangenheit hatte er ihn nur ein einziges Mal so intensiv stottern hören, und das war an dem Tag, an dem seine Mutter gestorben war.
»Welche Party?«, fragte Leon.
»Hallo? Professor Adomeit? Der geschäftsführende Direktor des Krankenhauskonsortiums? Der Mann mit dem Geldsack und dem goldenen Füller, der unseren Auftrag unterschreiben soll?«
Großer Gott, die Geburtstagsfeier zu Adomeits Fünfzigstem.
Leon griff sich an die Stirn.
»Ich bin die vierhundert Kilometer zu seinem Ferienhaus am See ganz alleine gefahren.«
»Es tut mir leid, das habe ich vollkommen verschwitzt.«
»Das merke ich«, sagte Sven mit einem gedehnten M. Neben dem D war es dieser Konsonant, der ihm große Schwierigkeiten bereitete.
»Die Idee mit dem Tunnel zwischen den Krankenhausgebäuden ist übrigens super angekommen!«
Leon schloss die Augen. Dass das Modell aus seinem Arbeitszimmer verschwunden war, hatte er zwischenzeitlich völlig verdrängt.
»Ja, danke. Wieso ist es so ruhig bei dir?«, fragte Leon, der weder Musik, Gläserklirren oder die sonst auf Partys üblichen Begleitgeräusche aufschnappen konnte.
»Weil ich mir den Arsch
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