Der Nachtwandler
auf einer Veranda am See abfriere. Drinnen ist es zu laut, um zu telefonieren.«
Wie zum Beweis hörte Leon rhythmische Bässe, als hätte sich auf Svens Seite eine Tür zu einer Diskothek geöffnet. Genauso schnell, wie sie hochgeschwappt waren, verstummten sie auch schon wieder.
»Was hast du gemacht? Ich hab es ein Dutzend Mal auf deinem Handy probiert.«
»Das hat die Polizei beschlagnahmt.«
»Was?«
Leon wusste nicht, wo er anfangen sollte. Am liebsten hätte er seinem Freund von der Tür und dem Labyrinth erzählt, dem Fingernagel und der blutigen Bluse, doch das konnte er nicht am Telefon – und schon gar nicht, während Sven sich auf einer Party befand.
Leon fasste die Entwicklungen der letzten Tage so knapp wie möglich zusammen und ließ die Fakten weg, die Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit aufkommen lassen würden.
Als er geschlossen hatte, klang Svens Stimme zittriger als noch zuvor, und Leon war sich nicht sicher, ob das ausschließlich an der Kälte lag: »Du willst mir sagen, dass deine Frau in einem völlig desolaten Zustand auf die Straße gerannt ist und du jetzt Angst hast, du könntest ihr im Schlaf etwas angetan haben?«
»Ja. Und ich fürchte, es gibt Beweise.«
»Wie bitte?« Sven beschwerte sich über die schlechte Leitung, wegen der Leon nur schwer und vernuschelt zu verstehen sei, und bat ihn, den letzten Satz zu wiederholen.
»Es gibt Beweise.«
»Die Fotos auf deinem Handy?«
»Nicht nur die.«
»Ich versteh das alles nicht«, sagte Sven nach einer nachdenklichen Pause.
Glaub mir, ich auch nicht.
»Hast du mir nicht bei unserem letzten Telefonat gesagt, Natalie habe dir erklärt, sie brauchte etwas Abstand und würde sich für einige Zeit zurückziehen?«
»Was? Nein, wie kommst du darauf?«
»Also, ich bin doch nicht bekloppt«, protestierte Sven. »Du hast mir von der Abschiedskarte erzählt.«
»Was für eine Karte?«
»Na die, die sie an eure Küchentür gehängt hat, bevor sie weg ist.«
Leon hatte mit einem Mal das Gefühl, als wären sämtliche Muskeln eingefroren. Er musste seine gesamte Willenskraft aufbringen, um seinen Beinen den Befehl zu geben, ihn in den Flur zu tragen.
»Da musst du dich irren«, sagte er zu Sven, obwohl er in dieser Sekunde den Beweis für dessen Behauptung direkt vor Augen hatte. Neben dem Mitteilungsblatt der Hausverwaltung hing eine Postkarte mit einem orangegelben Blumenmotiv. Behutsam, als könnte sie zu Staub zerfallen, löste er den Magneten und drehte sie um.
Liebster Leon, begann die kurze Nachricht, die Natalie in ihrer unverwechselbaren Handschrift verfasst hatte. Die Postkarte in Leons Hand zitterte so stark, dass er Mühe hatte, die weiteren Zeilen zu entziffern.
Ich brauche etwas Abstand. Mehr kann ich Dir leider nicht sagen, außer, dass ich mich für einige Tage zurückziehen muss, um mir darüber klarzuwerden, wie es mit uns weitergehen soll. Mach Dir keine Sorgen. Ich melde mich, sobald ich die Kraft dazu habe.
Deine Natalie
Keine Briefmarke, kein Poststempel. Und dennoch war sie hier. In seiner Wohnung. In seinen Händen.
Leon hatte unbewusst die Hand mit dem Telefonhörer sinken lassen, und als er ihn nach einer Weile wieder ans Ohr führte, hörte er ein Besetztzeichen. In dem Glauben, die Verbindung zu Sven verloren zu haben, wollte er auf Wahlwiederholung drücken und aktivierte damit einen neuen Anruf, der in der Leitung angeklopft hatte.
»United Deliveries, Kundenservice, guten Tag …«
»Wer?«, fragte Leon vollends verwirrt.
»Wir wollen uns in aller Form bei Ihnen für die Unannehmlichkeiten entschuldigen, Herr Nader.«
Leon wollte die Frau mit der unpersönlichen Singsangstimme sofort wegdrücken, da sagte sie: »Es tut uns sehr leid. Aus irgendeinem Grund ist Ihre letzte Bestellung offensichtlich verlorengegangen.«
Leon schüttelte unwirsch den Kopf. »Ich hab jetzt keine Zeit für den Quatsch. Außerdem hab ich alles bekommen.«
»Tatsächlich? Oh, dann muss der Fehler beim Lieferanten liegen. Uns fehlt nämlich Ihre Empfangsbestätigung.«
Kein Wunder bei diesem Idioten von Postboten.
Leon wechselte ohne ein Wort des Abschieds wieder zu Sven.
»Bist du noch dran?«
»Ja.«
Die Hintergrundatmosphäre hatte sich verändert. Die Stimme seines Freundes klang jetzt näher, vermutlich stand er nicht mehr im Freien und hatte nun doch ein ruhiges Plätzchen in Adomeits Haus gefunden.
»Du hast recht …« Leon war mit der Postkarte zurück ins Wohnzimmer gegangen und legte sie zu
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