Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
Vom Netzwerk:
Leute belogen und ihnen nur das gesagt, was sie hören wollten?«
    Celia weiß nicht, was schlimmer ist. Zu wissen, dass einer von ihnen sterben muss, damit das Spiel zu Ende ist, oder die Möglichkeit, dass sie ihm nichts bedeutet. Dass sie nur eine Spielfigur auf einem Brett ist, die darauf wartet, in die Enge getrieben und schachmatt gesetzt zu werden.
    »Der Unterschied zwischen Gegner und Partner ist eine Frage der Perspektive«, sagt Tsukiko. »Wenn du einen Schritt zur Seite trittst, kann dieselbe Person das eine oder das andere sein, oder beides oder etwas ganz anderes. Es ist schwer zu ergründen, welches das wahre Gesicht ist. Und außer deinem Gegner musst du noch viele andere Faktoren berücksichtigen.«
    »War das bei dir nicht so?«, fragt Celia.
    »Mein Schauplatz war nicht so grandios. Und es gab weniger Beteiligte, er war statischer. Ohne die Herausforderung, die darin steckte, war an ihm nichts Bewahrenswertes. Heute ist er größtenteils ein Teegarten, glaube ich. Nach dem Ende des Spiels bin ich nicht mehr dorthin zurückgekehrt.«
    »Der Zirkus könnte weitermachen, wenn diese Herausforderung … vorbei ist«, sagt Celia.
    »Das wäre schön«, entgegnet Tsukiko. »Eine angemessene Würdigung für deinen Herrn Thiessen. Allerdings wäre es kompliziert, den Zirkus von dir und deinem Gegner völlig abzukoppeln. Du hast ziemlich viel Verantwortung für das alles hier übernommen. Du bist entscheidend für sein Fortbestehen. Wenn ich dir jetzt ein Messer ins Herz stieße, würde der Zug entgleisen.«
    Celia stellt ihren Tee ab und sieht zu, wie sich das Schaukeln des Zugs in sanften Kräuselwellen auf der Oberfläche der Flüssigkeit fortsetzt. Sie rechnet aus, wie lange es dauern würde, den Zug anzuhalten, und wie lange sie ihr Herz weiterschlagen lassen könnte. Sie kommt zu dem Schluss, dass es vermutlich vom Messer abhängen würde.
    »Vielleicht«, sagt sie.
    »Wenn ich das Feuer oder seinen Hüter auslöschen würde, wäre das auch problematisch, oder?«
    Celia nickt.
    »Du hast einiges zu tun, wenn dieser Zirkus fortbestehen soll«, sagt Tsukiko.
    »Bietest du deine Hilfe an?«, fragt Celia, in der Hoffnung, Tsukiko könnte ihr bei der Verdeutlichung von Marcos Methoden behilflich sein, denn immerhin hatten die beiden denselben Lehrmeister.
    »Nein«, antwortet Tsukiko mit höflichem Kopfschütteln, und ihr Lächeln mildert das harsche Wort. »Wenn du es allein nicht schaffst, schreite ich ein. Es dauert eigentlich schon viel zu lange, aber ich gebe dir noch ein bisschen Zeit.«
    »Wie viel Zeit?«
    Tsukiko trinkt einen Schluck Tee. »Zeit ist etwas, das ich nicht kontrollieren kann«, sagt sie. »Wir werden sehen.«
    Umgeben vom Duft nach Ingwer und Balsam sitzen sie in stiller Betrachtung da und lassen die unkontrollierbare Zeit verstreichen, während der Zug dahinrauscht und die Samtvorhänge bauscht.
    »Was ist aus deinem Gegenspieler geworden?«, fragt Celia.
    Tsukiko starrt in ihren Tee. »Meine Gegnerin ist jetzt eine Aschensäule auf einer Wiese in Kyoto«, sagt sie. »Wenn nicht Wind und Zeit sie davongetragen haben.«

Hemmung
    CONCORD UND BOSTON, 31 . OKTOBER 1902
    B ailey geht ein paarmal um die leere Wiese herum, bis er glauben kann, dass der Zirkus tatsächlich fort ist. Es ist nichts mehr da, nicht mal ein geknickter Grashalm zeigt an, dass hier noch vor Stunden etwas war.
    Er setzt sich auf den Boden und hält den Kopf in den Händen, und obwohl er seit seiner Kindheit auf genau diesen Wiesen gespielt hat, fühlt er sich völlig verloren.
    Dann fällt ihm ein, dass Poppet einen Zug erwähnt hat.
    Ein Zug müsste erst nach Boston fahren, um von dort einen ferner gelegenen Zielort zu erreichen.
    Kaum ist ihm dieser Gedanke gekommen, springt Bailey auf und rennt, so schnell er kann, in Richtung Bahnhof.
    Als er dort ankommt, außer Atem und mit schmerzendem Rücken von seiner Tasche, ist nicht ein einziger Zug zu sehen. Bailey war sich zwar nicht sicher, ob es den Zirkuszug überhaupt gibt, hatte aber irgendwie gehofft, dass er noch da wäre und warten würde.
    Stattdessen ist der Bahnhof verlassen, nur zwei Gestalten sitzen auf einer Bank am Bahnsteig, ein Mann und eine Frau in schwarzen Mänteln.
    Es dauert einen Moment, bis Bailey ihre roten Schals entdeckt.
    »Ist alles in Ordnung?«, fragt die Frau, als er zu ihnen auf den Bahnsteig rennt. Bailey kann ihren Akzent nicht genau festmachen.
    »Sind Sie wegen dem Zirkus hier?«, fragt Bailey und ringt nach Luft.
    »Ja, das sind

Weitere Kostenlose Bücher