Der Nachtzirkus
wir«, sagt der Mann, ähnlich gedehnt wie die Frau. »Allerdings ist er abgereist, wie du sicher bemerkt hast.«
»Und er hat frühzeitig geschlossen, aber das ist nicht ungewöhnlich«, fügt die Frau hinzu.
»Kennen Sie Poppet und Widget?«, fragt Bailey.
»Wen?«, fragt der Mann. Die Frau neigt den Kopf, als hätte sie die Frage nicht ganz verstanden.
»Es sind Zwillinge, sie machen eine Vorführung mit Kätzchen«, erklärt Bailey. »Sie sind meine Freunde.«
»Die Zwillinge!«, ruft die Frau. »Und ihre wunderschönen Katzen! Wie kommt es, dass sie deine Freunde sind?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Dann erzähle sie uns doch, solange wir hier warten«, sagt sie lächelnd. »Bist du auch auf dem Weg nach Boston?«
»Ich weiß nicht«, antwortet Bailey. »Ich wollte dem Zirkus folgen.«
»Genau das tun wir auch«, sagt der Mann. »Allerdings können wir ihnen nicht folgen, solange wir nicht wissen, wohin er gereist ist. Das dürfte einen Tag dauern.«
»Ich hoffe, er fährt irgendwohin, wo er gut erreichbar ist«, sagt die Frau.
»Wie finden Sie heraus, wo er ist?«, fragt Bailey leicht ungläubig.
»Wir rêveurs haben unsere Methoden«, sagt die Frau schmunzelnd. »Aber wir müssen eine Weile warten, das lässt uns jede Menge Zeit für ein paar Geschichten.«
Der Mann heißt Victor, seine Schwester Lorena. Sie befinden sich auf einem längeren Zirkusurlaub – so nennen sie es – und folgen dem Cirque des Rêves an möglichst viele Orte. Normalerweise tun sie das nur in Europa, doch in diesem Urlaub haben sie beschlossen, ihm auch auf die andere Seite des Atlantiks zu folgen. Vor kurzem waren sie in Kanada.
Bailey erzählt ihnen eine Kurzversion, wie es dazu kam, dass Poppet, Widget und er Freunde wurden, wobei er die seltsameren Einzelheiten auslässt.
Gegen Tagesanbruch stößt eine weitere rêveuse zu ihnen, eine Frau namens Elizabeth, die im Gasthaus vor Ort abgestiegen war und nach der Abreise des Zirkus nun ebenfalls nach Boston will. Die Frau wird herzlich begrüßt, und sie scheinen Freunde zu sein, allerdings sagt Lorena, sie hätten sich erst vor einigen Tagen kennengelernt. Während sie auf den Zug warten, holt Elizabeth ihre Stricknadeln und einen dunkelroten Wollstrang hervor.
Lorena stellt ihr Bailey als schallosen jungen rêveur vor.
»Eigentlich bin ich gar kein rêveur «, sagt Bailey. Er ist immer noch nicht ganz sicher, ob er die Bedeutung des Wortes versteht.
Elizabeth schaut ihn über ihr Strickzeug hinweg an und taxiert ihn mit schmalen Augen, die ihn an seine strengste Lehrerin erinnern, obwohl er viel größer ist als sie. Sie beugt sich verschwörerisch vor.
»Liebst du den Zirkus auch so sehr?«, fragt sie ihn.
»Ja«, sagt Bailey, ohne zu zögern.
»Mehr als alles auf der Welt?«, fügt sie hinzu.
»Ja.« Trotz ihres ernsten Tonfalls und der Aufregung, die sein Herz noch immer nicht gleichmäßig schlagen lässt, muss er unwillkürlich lächeln.
»Dann bist du ein rêveur «, sagt Elizabeth. »Egal, was du anhast.«
Sie erzählen ihm Geschichten vom Zirkus und weiteren rêveurs . Dass es eine Art Gesellschaft gibt, welche die Reiseroute des Zirkus verfolgt und andere rêveurs benachrichtigt, damit sie ihm von Ort zu Ort nachreisen können. Victor und Lorena folgen dem Zirkus schon seit Jahren, wann immer es in ihren Zeitplan passt, während Elizabeth eigentlich nur Ausflüge in die nähere Umgebung von New York macht und dieser für sie ein längerer ist, wobei es in der Stadt einen losen Zusammenschluss von rêveurs gibt, die gelegentliche Treffen abhalten, um in der Abwesenheit des Zirkus in Kontakt zu bleiben.
Der Zug fährt kurz nach Sonnenaufgang ein, und auf dem Weg nach Boston werden weitere Geschichten erzählt, während Elizabeth strickt und Lorena den Kopf müde auf den Arm legt.
»Wo übernachtest du eigentlich?«, will Elizabeth wissen.
Darüber hat Bailey noch nicht nachgedacht, denn er geht Schritt für Schritt vor und versucht, sich keine Sorgen darüber zu machen, was aus ihm wird, wenn sie in Boston sind.
»Ich weiß es noch nicht genau«, sagt er. »Wahrscheinlich bleibe ich im Bahnhof, bis ich weiß, wohin es als Nächstes geht.«
»Unsinn«, sagt Victor. »Du bleibst bei uns. Wir haben fast eine ganze Etage im Parker House. Du kannst Augusts Zimmer haben, er ist gestern zurück nach New York, und ich habe im Hotel nicht Bescheid gesagt, dass ein Zimmer frei ist.«
Bailey will widersprechen, doch Lorena unterbricht ihn.
»Er
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