Der Nachtzirkus
die Vergangenheit sehen«, sagt Poppet unvermittelt. »Deswegen sind seine Geschichten oft so gut.«
»Die Vergangenheit ist einfacher«, sagt Widget. »Sie ist ja schon vorhanden.«
»In den Sternen?«, fragt Bailey.
»Nein«, sagt Widget. »An den Menschen. Die Vergangenheit haftet an dir wie Puderzucker an Fingern. Manche können sie abschütteln, aber die Ereignisse und Dinge, die dich an den Punkt gebracht haben, wo du jetzt bist, sind trotzdem immer da. Ich kann sie … nein, lesen ist nicht das richtige Wort dafür, genauso wenig wie für das, was Poppet mit den Sternen macht.«
»Du siehst mir also meine Vergangenheit an?«, fragt Bailey.
»Könnte ich«, sagt Widget. »Aber ich tu es nicht gern ohne Erlaubnis, es sei denn, mir fällt etwas von selbst ins Auge. Darf ich?«
Bailey nickt. »Natürlich.«
Widget sieht ihn einen Moment lang an, aber nicht so lange, dass Bailey sich unter seinem prüfenden Blick unwohl fühlt.
»Da ist ein Baum«, sagt Widget. »Eine gewaltige alte Eiche, die dir lieber ist als dein Zuhause, aber nicht so lieb wie das hier.« Er zeigt auf die Zelte und Lichter. »Du hast das Gefühl, allein zu sein, selbst wenn du mit anderen Menschen zusammen bist. Äpfel. Und deine Schwester scheint ein echter Schatz zu sein«, fügt er sarkastisch hinzu.
»Da könntest du recht haben«, erwidert Bailey lachend.
»Was ist mit den Äpfeln?«, fragt Poppet.
»Wir haben eine Farm mit einem Obstgarten«, erklärt Bailey.
»Oh, wie schön«, sagt Poppet. Bailey hat die Reihen mit den niedrigen knorrigen Bäumen noch nie als schön empfunden.
»Wir sind da«, sagt Widget, als sie um eine Ecke biegen.
Bailey ist verwundert, dass er dieses Zelt bei seinen – zugegeben wenigen – Besuchen im Zirkus noch nie gesehen hat. Es ist hoch, fast so hoch wie das Akrobatenzelt, nur schmaler. Er bleibt stehen und liest das Schild über der Tür.
Das Wolkenlabyrinth
Ein Ausflug in den multidimensionalen Raum
Eine Kletterpartie durch das Firmament
Ohne Anfang
Ohne Ende
Tritt ein, wo du willst
Steig aus, wann du möchtest
Hab keine Angst zu fallen
Das Zelt hat dunkle Innenwände, und in der Mitte steht ein riesengroßes schimmerndes Gebilde. Ein anderes Wort fällt Bailey dafür nicht ein. Es füllt fast das gesamte Zelt aus, nur am Rand führt ein erhöhter Pfad entlang, der am Eingang beginnt und rundherum verläuft. Der Boden darunter ist mit weißen Kugeln bedeckt, die sich zu Tausenden auftürmen und an Seifenblasen erinnern.
Der Turm selbst besteht aus einer Reihe von durchscheinenden Ebenen, die in seltsamen, unterschiedlichen Winkeln angeordnet sind, ganz ähnlich wie Wolken. Sie sind geschichtet wie eine Torte. Der Abstand zwischen den Ebenen variiert: Manchmal ist er groß genug, um aufrecht zu stehen, dann wieder ist er so klein, dass man nur mit Mühe durchkriechen kann. Hier und da scheinen Teile der Ebenen vom Turm weg in den Raum zu schweben.
Und überall klettern Menschen. Sie hängen an Kanten, überqueren Wege, klettern weiter hinauf oder hinunter. Manche Podeste geben unter dem Gewicht nach, andere sind offenbar fest und stabil. Die ganze Konstruktion bewegt sich auch ständig, als würde sie atmen.
»Warum heißt das Labyrinth?«, fragt Bailey.
»Das siehst du gleich«, sagt Widget.
Sie gehen den Pfad entlang, der wie ein Anlegesteg am Wasser leicht schwankt. Wenn Bailey nach oben blickt, kann er nur mit Mühe sein Gleichgewicht halten.
Einige Ebenen hängen an Seilen oder Ketten von oben herab, während durch die unteren dicke Pfähle getrieben sind – ob sie bis ganz nach oben reichen, kann Bailey allerdings nicht sagen. An manchen Stellen sind Netze gespannt, an anderen hängen Seile wie Schmuckbänder.
Auf der anderen Seite, wo der Weg nah genug an das Gebilde heranreicht, um auf eine der unteren Ebenen zu springen, bleiben sie stehen.
Bailey hebt eine weiße Kugel auf. Sie ist leichter, als sie aussieht, und weich wie ein Kätzchen. Überall im Zelt bewerfen sich die Leute damit, als wären es Schneebälle, aber statt kaputtzugehen, prallen sie von ihren Zielscheiben ab und schweben sachte nach unten. Bailey wirft seine wieder zurück und folgt dann Poppet und Widget.
Sobald sie ein paar Schritte in das Gebilde gegangen sind, versteht Bailey, warum es Labyrinth heißt. Er hatte mit Wänden, Kurven und Sackgassen gerechnet, aber dies hier ist anders. Die Ebenen hängen in unterschiedlicher Höhe: manche kniehoch, manche taillenhoch, und einige ragen weit
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