Der Nachtzirkus
das?«
»Sagen wir mal so: An den Murray-Zwillingen ist noch mehr bemerkenswert als nur ihr Haar.«
»Und was das ist, sagen Sie mir nicht?«
»Eine Frau darf nicht alle ihre Geheimnisse verraten«, erwidert Celia. Sie zieht eine Rose an einem herabhängenden Zweig zu sich, saugt den Duft mit geschlossenen Augen ein und spürt die Blüte samtig weich an ihrer Haut. Die Sinnestäuschung ist bis ins kleinste Detail so überwältigend, dass Celia fast schwindelig wird. »Wer kam darauf, den Garten auszuheben?«, fragt sie.
»Chandresh. Die Idee geht auf ein anderes Zimmer im Haus zurück. Wenn Sie möchten, kann ich es Ihnen zeigen.«
Celia nickt, und sie gehen durch den Garten zurück. Sie bleibt dicht bei ihm, so dicht, dass sie ihn berühren könnte, obwohl er die Hände hinter dem Rücken verschränkt hält. Als sie die Terrasse erreichen, dreht Celia sich zum Garten um: Die Rosen und Laternen sind wieder zu Erde und Stein geworden.
*
Im Haus führt Marco Celia durch den Ballsaal. An der hinteren Wand bleibt er stehen und schiebt ein Stück der dunklen Holzvertäfelung beiseite, die den Blick auf eine abwärtsführende Wendeltreppe freigibt.
»Ist das ein Verlies?«, fragt Celia im Hinuntergehen.
»Nicht direkt«, antwortet Marco. Am unteren Ende der Treppe öffnet er eine vergoldete Tür für sie. »Vorsicht Stufe.«
Es ist ein kleiner Raum mit hoher Decke, in deren Mitte ein mit Kristallen geschmückter goldener Lüster hängt. Die abgerundeten Wände und die Decke sind in einem leuchtenden Dunkelblau gestrichen und mit Sternen verziert.
Um den Raum führt ein Weg herum, der an ein Sims erinnert. Der Fußboden liegt tiefer und ist mit großen verzierten Seidenkissen in allen Farben des Regenbogens gefüllt.
»Chandresh behauptet, das Ganze sei einem Raum nachgebildet, der einer Kurtisane in Bombay gehörte«, erklärt Marco. »Ich persönlich finde, er eignet sich hervorragend zum Lesen.«
Celia lacht, und eine Haarlocke fällt ihr ins Gesicht.
Marco macht vorsichtig Anstalten, ihr die Locke aus dem Gesicht zu streichen, doch bevor seine Finger Celia erreichen, stößt sie sich vom Sims ab, und ihr silbernes Kleid bauscht sich wie eine Wolke, als sie auf den Haufen edelsteinfarbener Kissen fällt.
Er betrachtet sie einen Moment lang, dann springt er hinterher und lässt sich in der Mitte des Raums neben sie sinken.
Sie liegen da und betrachten den Lüster. Die Lichtspiegelung über den Kristallen verwandelt die Decke in einen Nachthimmel, ganz ohne jeden Zaubertrick.
»Wie oft besuchen Sie den Zirkus?«, fragt Celia.
»Nicht so oft, wie ich möchte. Natürlich immer, wenn er in der Nähe von London ist. Und auch anderswo in Europa, sofern ich lange genug von Chandresh wegkommen kann. Manchmal habe ich das Gefühl, als stünde ich auf beiden Seiten. Mir ist vieles im Zirkus sehr vertraut, aber ich bin trotzdem immer wieder überrascht.«
»Welches ist Ihr Lieblingszelt?«
»Soll ich ehrlich sein? Ihres.«
»Und warum?« Celia sieht zu ihm hin.
»Weil es vermutlich meinem persönlichen Geschmack entspricht. Sie zeigen Dinge in der Öffentlichkeit, die man mir heimlich beigebracht hat. Ich schätze es auf einer anderen Ebene als die meisten. Das Labyrinth gefällt mir auch gut. Ich war mir nicht sicher, ob Sie daran mitarbeiten würden.«
»Wegen dieser Gemeinschaftsarbeit musste ich mir eine ordentliche Standpauke anhören«, sagt Celia. »Mein Vater nannte es ein korrumpiertes Nebeneinander. Vermutlich musste er tagelang nachdenken, bis ihm eine angemessene Beleidigung eingefallen ist. Er findet es geschmacklos, wenn man Talente bündelt. Ich habe nie verstanden, warum. Und das Labyrinth finde ich ebenfalls wunderschön, es hat mir großen Spaß gemacht, neue Räume hinzuzufügen. Besonders gefällt mir der von Ihnen entworfene Gang, wo es schneit und man die Fußabdrücke der anderen Besucher sieht.«
»Als lasterhaft hatte ich das noch gar nicht gesehen«, sagt Marco. »Mit diesem Gedanken im Hinterkopf freue ich mich schon auf meinen nächsten Besuch. Aber eigentlich dachte ich, Ihr Vater sei nicht mehr in der Lage, solche Angelegenheiten zu kommentieren.«
»Er ist nicht tot«, sagt Celia und dreht sich wieder zur Decke. »Es ist schwer zu erklären.«
Marco drängt sie nicht, es doch wenigstens zu versuchen, sondern wendet sich wieder dem Thema Zirkus zu.
»Welches ist Ihr Lieblingszelt?«
»Der Eisgarten«, sagt Celia, ohne auch nur zu überlegen.
»Und warum?«
»Wegen der
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