Der Nachtzirkus
Schweigen zu füllen und sich von ihren noch immer zitternden Händen abzulenken – in Anknüpfung an das umgekippte Weinglas beim Abendessen.
»Mal so, mal so«, antwortet Marco seufzend. »Seit der Eröffnung des Zirkus ist er zunehmend unkonzentriert. Ich … ich tue mein Möglichstes, um ihn stabil zu halten, aber ich fürchte, es wirkt sich negativ auf sein Gedächtnis aus. Ich wollte das nicht, aber nach dem Ableben von Miss Burgess hielt ich es für die klügste Vorgehensweise.«
»Sie war in der merkwürdigen Situation, in alles eingebunden zu sein, außer in den Zirkus selbst«, sagt Celia. »Das ist alles andere als einfach. Sie können Chandresh zumindest beobachten.«
»Das ist richtig«, erwidert Marco. »Ich wünschte mir wirklich, es gäbe eine Möglichkeit, die Beteiligten außerhalb des Zirkus genauso zu beschützen wie die in ihm durch das Feuer.«
»Das Feuer?«, fragt Celia.
»Es dient mehreren Zwecken. In erster Linie ist es meine Verbindung zum Zirkus, aber es funktioniert auch als eine Art Absicherung. Ich hatte allerdings nicht daran gedacht, dass die außerhalb des Zauns davon ausgeschlossen sind.«
»An Schutzmaßnahmen hatte ich nie gedacht«, sagt Celia. »Ich glaube, am Anfang war mir gar nicht klar, wie viele andere Menschen in unsere Prüfung miteinbezogen sind.« Sie bleibt mitten im Ballsaal stehen.
Marco hält ebenfalls inne, sagt aber nichts, sondern wartet, dass sie fortfährt.
»Es war nicht Ihre Schuld«, sagt Celia leise. »Das, was Tara zugestoßen ist. Die Umstände wären dieselben geblieben, egal, was Sie oder ich getan hätten. Man kann niemandem seinen freien Willen nehmen, das war eine meiner ersten Lektionen.«
Marco nickt und tritt einen Schritt näher zu ihr heran. Dann nimmt er ihre Hand und streicht ihr langsam über die Finger.
Das Gefühl ist so stark wie bei der ersten Berührung, und doch ist etwas anders. Die Luft verändert sich, aber die Lüster über ihnen bleiben reglos und still.
»Was machen Sie da?«, fragt Celia.
»Sie haben etwas von Energie erwähnt«, antwortet Marco. »Ich fokussiere Ihre mit meiner, damit Sie die Lüster nicht zerbrechen.«
»Wenn ich etwas zerbreche, könnte ich es wahrscheinlich wieder heil machen«, sagt Celia, entzieht ihm aber nicht ihre Hand.
Ohne die Sorge um ihre mögliche Wirkung auf die Umgebung kann sie das Gefühl entspannt genießen und muss sich nicht dagegen wehren. Es ist herrlich. In vielen seiner Zelte erging es ihr ähnlich: Die freudige Erregung, von etwas Wundersamem und Phantastischem umgeben zu sein, ist jetzt nur verstärkt und direkt auf sie gerichtet. Sie spürt seine Nähe am ganzen Körper, obwohl er nur ihre Finger umschlingt. Als sie aufblickt, ist sie erneut fasziniert vom einzigartigen Grünlichgrau seiner Augen.
Schweigend stehen sie da und sehen einander an, es kommt ihnen vor, als wären es Stunden.
Als die Uhr in der Eingangshalle schlägt, zuckt Celia erschrocken zusammen. Sie lässt Marcos Hand los und möchte am liebsten sofort wieder danach greifen, entscheidet sich aber dagegen, denn der Abend war reich genug an überwältigenden Empfindungen.
»Sie verstecken sie sehr gut«, sagt Celia. »In jedem Ihrer Zelte spüre ich dieselbe Energie, aber bei Ihnen ist sie völlig verdeckt.«
»Irreführung ist eine meiner Stärken«, entgegnet Marco.
»Jetzt, da ich ein Auge auf Sie habe, wird das nicht mehr so einfach sein.«
»Ich mag es, wenn Sie ein Auge auf mich haben«, sagt er. »Und danke. Dafür, dass Sie geblieben sind.«
»Ich verzeihe Ihnen, dass Sie meinen Schal gestohlen haben.«
Er lacht, worauf sie schmunzelt.
Und dann verschwindet sie mit einem simplen Trick. Obwohl sie viel lieber noch bleiben würde, lenkt sie ihn kurz ab, um durch die Eingangshalle nach draußen zu entwischen.
*
Im Spielezimmer findet Marco ihren Schal, er liegt noch immer über seinem Jackett.
TEIL III
ÜBERSCHNEIDUNGEN
Ich würde herzlich gern die Reaktionen und Beobachtungen von jedem Einzelnen lesen, der durch das Tor des Cirque des Rêves tritt, möchte wissen, was er sieht und hört und fühlt. Ich möchte sehen, ob sich seine Erfahrung mit meiner deckt oder von ihr abweicht. Zu meinem Glück habe ich Briefe mit solchen Informationen erhalten und ließen mir viele rêveurs Auszüge aus ihren Tagebüchern oder auf Papierfetzen festgehaltene Gedanken zukommen.
Wir fügen dem Zirkus unsere eigenen Geschichten hinzu. Jeder Besucher, mit jedem Besuch, an jedem Abend. Vermutlich wird es
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