Der Name Der Dunkelheit
seine Rage auf volle Touren zu bringen. Außerdem läuteten ständig die Kirchenglocken. Anscheinend hatten die Leser damals immer wissen wollen, wie spät es gerade in der Geschichte war. Kjell las sich fest, bis ihn zwei Tassen Kaffee später eine Stelle mahnte, weshalb er eigentlich hier war: Und nun mache ich es wie so viele Schiffbrüchige: Ich werfe mich der Literatur in die Arme.
In der dritten Kiste mit den Nachbestellungen hatte er schließlich Glück. Mit dem schwarzen Buch und einer weiteren Tasse Kaffee machte er es sich am Tisch gemütlich. Vom Umschlag blickte ihm Odin als alter Mann entgegen; mit einem Auge, das zweite war eine leere Höhle. Er hielt einen Stock in der Hand und hatte sich seinen Schlapphut tief ins Gesicht gezogen. Odin als Wandersmann. Kjell schlug das Buch auf. Es war auf Englisch verfasst. Mit dem Zeigefinger durchstreifte er mehrere Seiten des Inhaltsverzeichnisses, aber der Begriff ›Valknut‹ - so lautete der englische Name - tauchte nirgendwo auf. Dafür gab es ein ganzes Kapitel über Odins Jugendjahre. Da war er zum Riesen Mimir gereist und musste eines seiner Augen verpfänden, um aus dem Brunnen der Erkenntnis trinken zu dürfen.
Für Kjell war das Buch alles andere als ein Brunnen der Erkenntnis. Es schien nichts zu enthalten, was er nicht schon
wusste. Deshalb schlug er das Register auf und suchte dort nach ›Knoten‹. Knots of Slain. Kjell musste aufstehen und in einem hundert Jahre alten Wörterbuch nachschlagen. Slain kam von slay. Das bedeutete erschlagen oder töten. Er kehrte zu seinem Platz zurück und begann zu lesen: Knots of Slain war tatsächlich eine Umschreibung für Valknut. Alle Belege für den Knoten waren Einritzungen auf alten Steinen, und die stammten aus der Umgebung von Stockholm. Vielleicht hatte Hulda das nicht gewusst. Doch sie hatte noch viel weniger als die halbe Wahrheit gesagt: Die Knoten banden nicht nur die Kräfte des Gegners, sondern lösten auch die Ängste der eigenen Kämpfer und entfachten deren Feuer in der Schlacht.
Betäubung und Inspiration. Er hätte gerne gewusst, wie lange Elin das Amulett getragen hatte. Es machte ja einen Unterschied, ob Elin es seit Jahren am Hals trug wie ein Christ ein Kreuz. Vielleicht war es auch ein Geschenk des Mörders. Wenn es einen gab.
Er griff zum Telefon.
»Kjell Cederström«, sagte er nur. Sätze ohne Verben mochte Suunaat am liebsten.
»Alles ist noch spekulativ.«
»Hast du einen Zeitpunkt?«, fragte er.
»Es ist spekulativ.«
Wenn Suunaat sich stur wiederholte, was in jedem Gespräch mit ihr geschah, durfte man das dramaturgisch nicht überbewerten. Es war eine ihrer Eskimositten und bedeutete nicht mehr, als dass ihre Rechnung spekulativ war.
»Ich verstehe.«
»Zwischen ein und zwei Uhr nachts. Hängt davon ab, wie lange sie vorher in der Kälte war.«
»Spielt keine Rolle. Am 24. Dezember?«
»Ja.«
Für den Selbstmord sprach eine ganze Menge, wandte
Kjell ein, allem voran das Motiv. Elin ging auf die dreißig zu, wohnte vereinsamt in schlechter Lage, arbeitete in einem Telefonladen und war achtmal durch die Hochschulaufnahmeprüfung gefallen. »Die Psychologin behauptete in ihrem Gutachten, jede Depression beruhe auf einem Prestigeverlust, einem Misserfolg in sozialer Konkurrenz. Hier seien alle Voraussetzungen für einen Selbstmord erfüllt.«
»Etwa Stina Nääs?«, fragte Suunaat.
»Genau die.«
»Sie war Evolutionsbiologin, bevor sie Polizeipsychologin wurde. Den Job hat sie vor fünf Jahren nur bekommen, weil sie sich mit Selbstmordattentätern auskennt.«
»Soll ich lieber Göransson fragen?«
»Der hat früher die Qualitätssicherung bei Volvo geleitet und wird zu einem ähnlichen Urteil kommen, nur die Vokabeln werden anders klingen.«
Kjell beendete das Gespräch und seufzte. Vierzehn Stunden! Elin Gustafsson hätte vierzehn Stunden tot im Liegestuhl sitzen müssen, damit ihr Körper auf die Temperatur abkühlte, die Suunaat bei ihrem Eintreffen gemessen hatte.
Ging man nachts um ein Uhr zum Strandbad, um zu sterben? Warum nicht, dachte Kjell. Man wird nicht gestört. Zum Beispiel durch Esbjörn Fors und seinen Hund Fidel. Esbjörn behauptete, sieben Stunden nach dem errechneten Todeszeitpunkt, also genau in der Mitte des Auskühlungszeitraums, bei seinem ersten Spaziergang am Morgen nichts gesehen zu haben. Konnte Esbjörn irren? Es war ja noch finster gewesen. Vielleicht hatte er Elin da bereits gesehen, ließ sich jedoch von seinem Gewissen einreden, die
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