Der Name der Finsternis: Roman (German Edition)
beginnen sollte, eine Liga der konsequenten Umsetzung spirituellen Lebens, der Abkehr von
weltlicher Macht. „Sie wird eine Gemeinschaft der Auserwählten sein, die ihr Dasein dem Hju hingeben, in Armut, Zurückgezogenheit und Keuschheit leben und
sich strengen spirituellen Exerzitien widmen. Diese Elite der Menschheit wird den Planeten heilen,“ schwärmte er. Seine Weltfremdheit nahm mit jedem Tag
zu. Eine bizarre Situation. Einerseits schwang sich die Liga-Organisation unter Panettas Führung zu unerhörter Macht auf, andererseits beabsichtigte der
Mahaguru, ihre Strukturen aufzulösen und sie in eine fundamentalistische Sekte verstiegener Asketen umzuwandeln. „Wir werden das Vermögen der Liga unter
den Bedürftigen verteilen und nur das Allernötigste behalten. Das Hju wird unser einziger Reichtum sein,“ verkündete Ken mit glänzenden Augen.
In den Wochen vor dem Seminar kam ich fast täglich ins Hauptquartier. Ich versuchte, Kontakte mit dem Personal zu vermeiden und begab mich unmittelbar in
Teds Büro, das im Stockwerk des inneren Rates lag, direkt neben dem weitläufigen Konferenzraum, in dem die Herren der Liga zusammenkamen, wenn es wichtige
Entscheidungen zu treffen galt. Unmittelbar über diesem Raum lagen Büro und private Audienzzimmer des Mahaguru. Mittels eines Lifts, für den nur der
Mahaguru den Schlüssel besaß, konnte er direkt von seinem Büro in den Konferenzraum herabschweben. Gordon mit dem ihm eigenen Sinn für wirkungsvolle
Auftritte hatte diesen Lift einbauen lassen, ebenso den gläsernen Dom über dem Repräsentationsbüro des Mahaguru.
Ted empfing mich mit freundlichem Winken. Er telefonierte, saß mit hochgekrempelten Ärmeln an seinem Schreibtisch, die Anzugjacke über der Stuhllehne. Er
sah aus wie ein Industriemanager, der seinen Stress in vollen Zügen genießt.
„Wie läuft’s?“, fragte ich, als er aufgelegt hatte.
„Fabelhaft! Es wird ein wunderbares Seminar. Das beste, das wir je hatten.“
„Ist Ken okay?“
„Es geht ihm prächtig.“
Wir tauschten Belanglosigkeiten aus. Ted war überzeugt, dass Panetta unsere Büros abhören ließ, um sicherzugehen, dass wir ihm nicht noch einen weiteren
Zwischen-Mahaguru vorsetzten.
„Was treibt Patrick?“, fragte ich.
„Er arbeitet sich auf. Ohne ihn wären wir hilflos. Auch Ken ist begeistert von ihm.“ Ted blinzelte mir schelmisch zu. „Jeder im Hauptquartier gibt alles
für das Seminar. Wir werden die mit Abstand größte Beteiligung von Nichtmitgliedern haben. Die Liga kann sich auf eine Lawine von Mitgliedschaftsanträgen
gefasst machen. Die großen TV-Anstalten werden ausnahmslos berichten. Die ganze Welt wird von diesem Seminar erfahren.“
„Eine Reihe von Leuten wird das nicht sehr freuen.“
„Entsprechend viel von diesem Mist kommt herein.“
„Mist?“
„Morddrohungen gegen Ken. Anklagen. Beleidigungen. Verfluchungen. Bombendrohungen und so weiter. Das war schon immer der Gradmesser unseres Erfolges bei
den Orthodoxen. Kannst du dich erinnern, wie Jason sich freute, als er die erste Morddrohung erhielt. ‚Jetzt werde ich allmählich wirklich bekannt,‘ sagte
er.“
„Er hatte einen eigenen Sinn für Humor. Ist etwas wirklich beunruhigendes dabei?“
„Eigentlich nicht. Aber wir werden trotzdem die professionellsten Sicherheitsvorkehrungen treffen, die jemals auf einem Liga-Seminar angewendet wurden. Ken
hat mich gebeten, eine Truppe von Vollprofis anzuheuern. Sie werden den EHs unter die Arme greifen. Patrick kümmert sich um die Koordination.“
Beim Abendessen bestätigte Ted den Fortgang der Dinge etwas präziser.
„Ken hat seine Rede vorbereitet. Sie ist gut. Sie wird auch die Hartgesottenen überzeugen. Sie arbeitet mit schlichter, entwaffnender Offenheit. In seiner
Rede am Freitag wird er ausschließlich über Ehrlichkeit sprechen und das ganze sozusagen theoretisch vorbereiten. Ehrlichkeit als einziger Weg zur
absoluten Wahrheit, auch wenn das manchmal bedeutet, unser lieb gewonnenes Weltbild umzukrempeln und so weiter. Am Samstag wird er die Katze aus dem Sack
lassen. Er wird verkünden, dass die Organisation der Liga die Verbindung zu ihrer spirituellen Quelle verloren hat, dass konsequente Spiritualisierung der
Liga bedeutet, sie zugunsten einer freien, besitzlosen Gemeinschaft echter Eingeweihter aufzulösen.“ Ted war enthusiastisch. „Aus genau diesem Grund ist es
wichtig, dass so viele Menschen wie nur irgend möglich live dabei sind. Wir werden
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