Der Name der Finsternis: Roman (German Edition)
natürlicherweise eigen war, das er nur vergessen hatte. Gelassen betrachtete er die Dinge, die sich seinen neuen Augen boten – er sah das
Gästezimmer, das man ihm nach der Ankunft in Blackwater zugewiesen hatte, den schlichten Raum, der wie eine moderne Mönchszelle wirkte: Das Schreibpult mit
der Schulungsmappe. Der Stuhl. Der hellblaue Teppichboden. Das Foto des Mahaguru an der schmucklosen weißen Wand. Die verbogenen Klappen der Klimaanlage.
Das Bett, gefasst in das gleiche helle Holzimitat wie Tür, Tisch und Stuhl. Aron blickte von einem erhöhten Standpunkt auf die Dinge in dem Zimmer herab,
als schwebe das, was in ihm wahrnahm, mitten im Raum. Als er das Bett noch einmal betrachtete, sah er sich selbst darin schlafen, die Decke halb vom
nackten Körper gestreift, ruhig atmend. Auch dieser Anblick schien ihm natürlich, denn was sollte der Körper anderes tun als schlafen, wenn das Bewusstsein
zu völliger Klarheit erwacht war.
Plötzlich aber wurde sich Aron der Gegenwart einer mächtigen, beobachtenden Kraft gewahr. Sie schien den Raum mit vibrierender Energie zu laden, schien
Aron zu umklammern und von allen Seiten auszuforschen. Er fühlte sich durchdrungen von dieser Energie, durchleuchtet, bloßgestellt. Als er sich umblickte,
fand er plötzlich seinen Blickpunkt verändert. Von seiner Position mitten im Raum, knapp unter der Zimmerdecke, sah er sich nun auf die Höhe seines Bettes
herabgedrückt, in dem sein Körper schlafend lag, still atmend, unberührt von den lautlosen Ereignissen, die um ihn herum vorgingen. Nun schien es Aron, als
schaue er durch seine eigenen geschlossenen Lider hindurch, als habe sich sein Bewusstsein um den ruhenden Körper gefaltet, als lägen seine wachen Sinne
auf den schlafenden. Die berührungslose Verbindung mit seinem Körper beruhigte ihn, als böte die fleischliche Hülle dem losgelöst schweifenden Bewusstsein
Schutz. Nun spürte er, dass ein unsichtbares Band ihn mit dem Körper verflocht, dass eine erdige Kraft seinen Geist an die schlafende Materie fesselte.
Schon wollte die Wachheit seiner Wahrnehmung nachgeben, weich abklingen, zurücksinken in das Vergessen des Schlafes, als er spürte, wie die fremde Energie
sich zu verfestigen begann. Eine Gestalt erschien neben seinem Bett, eine hagere Figur, die regungslos verharrte und den schutzlos liegenden Körper
anstarrte. Aron sah nur die Umrisse dieses Wesens, eine scharfe Silhouette, denn die Gestalt schien ganz aus Schwärze geboren. Die nächtliche Dunkelheit
des Raumes wirkte wie nebliges Licht gegen die Finsternis dieses Geschöpfs. Aron schien es, als sei der Umriss der Gestalt aus der Folie der Wirklichkeit
ausgestanzt, als öffne ihr Ausschnitt ein Fenster auf ein allem zugrunde liegendes Nichts, eine Finsternis, wie er sie nur in seinen Träumen von der Brücke
des Windes gesehen hatte. Aron schauderte wie von einem Eishauch berührt. Er begann zu zittern, spürte, wie die Angst, die durch sein Bewusstsein kroch,
auf den schlafenden Körper übergriff, den Atem rascher gehen ließ, das Herz panisch beschleunigte. Aron konnte den Blick nicht wenden von der schwarzen
gesichtslosen Kreatur. Er fühlte, dass die Wachheit seiner Wahrnehmung mit jedem Augenblick zunahm, in dem er seinen Blick wie hypnotisiert in die
Lichtlosigkeit des Wesens versenkte. Sein Inneres wurde ausgebrannt, geläutert, bis kein Gedanke, kein Gefühl mehr blieb neben seiner starren Konzentration
auf die dunkle Erscheinung. Aron verharrte gelähmt, hilflos dem Unbekannten ausgeliefert, das sich immer noch verdichtete. Die suchende, forschende Kraft,
die er zuvor unbestimmt im Raum empfunden hatte, floss nun konzentriert aus diesem Geschöpf, zerrte an ihm wie unzählige Hände. Er spürte, wie sein
Bewusstsein vom Körper entfernt, aus der neu gefundenen Geborgenheit herausgelöst wurde. Aron war machtlos dagegen. Alles in ihm sträubte sich, doch er
musste spüren, wie diese Macht ihn losriss von seinem Körper, der in ohnmachtsartigem Schlaf versank, wie sie zugleich nach seinen von entsetzlicher Angst
aufgewühlten Empfindungen griff, in ihn einzudringen, Besitz von ihm zu ergreifen versuchte. Er begann im Stillen das Hju zu singen, wie er es als Atma in
Augenblicken der Bedrohung gewohnt war. Mit der verzweifelten Kraft eines Ertrinkenden klammerte er sich an das heilige Mantra der Liga, an das geheime
Wort der uralten Adepten, das gegen jede Gefahr zu schützen vermochte. Als er den vertrauten Klang in
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