Der Name der Finsternis: Roman (German Edition)
Aufmerksamkeit
schleuderte mich in einen Sog von verwirrten Gedanken, Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen, an deren Ende immer Kens suchende, hasserfüllte Augen standen.
Ich dachte auch an Selbstmord in diesen Augenblicken. Der Gedanke, einfach Schluss zu machen, schien die beste Lösung, eine Befreiung von diesem sinnlos
gewordenen Dasein. Dann aber dachte ich an Ted, an unser Gespräch über Gedankenkräfte und magische Manipulationen, dachte an John, dem ich versprochen
hatte, die Wahrheit über die Liga niederzuschreiben. Dies gab mir die Kraft, solche Tiefpunkte zu überwinden.
Ich stattete Daniel mit allen Vollmachten aus. Er würde sich um mein Haus, meine Besitzungen, meine Konten kümmern. Ich bat ihn, den Ordner mit Dokumenten
über die Vergangenheit der Liga, die Ted gesammelt und vor einiger Zeit – als hätte er seinen Tod vorhergesehen – mir anvertraut hatte, aus meinem Haus zu
holen und in einem Banksafe aufzubewahren. Ich betrat mein Haus nicht mehr, obwohl mir Daniel anbot, mich zu begleiten, um für meine Reise zu packen. Ich
lehnte ab, fürchtete, Panettas Ethik-Hüter würden dort auf mich lauern, kaufte alles, was ich auf die Reise mitnahm, neu ein. Eines der wenigen Stücke
meines alten Lebens, die ich einpackte, war das gelbe Buch, in das ich diese Aufzeichnungen schreibe, ein Andenken an Ted, der es mir vor Jahren von einer
Asienreise mitgebracht hatte. Ich hatte es auf das Seminar mitgenommen, ein leeres, in gelbe Seide gebundenes Buch, hatte es achtlos ins Handgepäck
geworfen, als ich, schon in Eile vor dem Abflug, nach einem Notizheft suchte. Nun war es ein unsichtbares Band, das mich mit Ted, mit meinem alten Leben
verband.
In der Lounge des Flughafens überwältigten mich Anfälle der Angst, ein Ethik-Hüter könnte mich in letzter Sekunde aufspüren. Zugleich bedrückten mich
Depressionen, die meine Flucht sinnlos scheinen ließen, da es vor der Strafe des allmächtigen Hju kein Entkommen gab. Es war, als kreischten fremde Stimmen
in meinem Kopf, ich solle sofort zurückfahren zu meinem Haus und Patrick Panetta anrufen, um die Zukunft der Liga mit ihm zu besprechen. Für einen
Augenblick schien das tatsächlich die beste Lösung. Ken Andersen lebte. Es war meine Pflicht, mich um ihn zu kümmern. Vielleicht ließ sich Teds Plan doch
noch verwirklichen, wenn Ken wieder gesund wurde. Ich musste Ken vor weiteren Mordversuchen schützen. Ich durfte nicht einfach davonlaufen. Auch John
brauchte mich dringend. Das Hju drängte sich in meine Gedanken, der schwebende, heulende Ton, den die Atmas in der Arena erzeugt hatten. Ich stand auf,
nahm meine Tasche, ging in Richtung Ausgang.
Eine Hosteß der Lounge berührte mich am Arm und riss mich aus diesen Wahnvorstellungen. „Es ist die andere Tür, die zum Flugsteig führt, mein Herr. Wir
sind sofort bereit zum Einsteigen,“ sagte sie höflich. Ich folgte ihr willenlos.
Erst als das Flugzeug in der Luft war, als ich die San Francisco Bay unter mir kleiner werden sah, als eine Wolkenschicht den Blick nach unten versperrte
und die Maschine wie unbeweglich am Himmel hing, vermochte ich etwas zu entspannen. Ich wollte schlafen, winkte der Stewardess ab, die Drinks anbot, lehnte
mich ans Fenster, das ausgefüllt war vom Blau des Himmels und schloss die Augen.
Erst nach Stunden griff ich zu der Zeitung, die ich beim Betreten des Flugzeugs genommen und beiseitegelegt hatte. Das Attentat auf Ken Andersen war von
den Titelseiten verschwunden. Die Medien hatten es ausgeschlachtet und die leere Hülle fortgeworfen. Auf einer der Innenseiten fand ich eine Meldung, die
ich herausriss und nun als Abschluss meiner Aufzeichnungen in das gelbe Buch einklebe, als wolle ich mir selbst beweisen, dass alles tatsächlich geschehen
ist.
weiteres attentatsopfer
San Francisco – Eigener Bericht.
Das Attentat auf den Führer der religiösen Vereinigung „Liga“, Ken Andersen, hat ein weiteres Opfer gefordert. Dr. John Campbell, Leibarzt von Andersen,
den ein Streifschuss am Arm nur leicht verwundete, erlag, wie erst gestern bekannt wurde, bereits vor drei Tagen im Krankenhaus einem Herzversagen. Sein
Tod sei nicht auf die Schussverletzung zurückzuführen, so die behandelnden Ärzte, wohl aber auf den Schock, den der 67jährige herzkranke Dr. Campbell bei
dem Attentat erlitten habe. Neben Ted Elliot, einem führenden Manager und Mitbegründer der Liga, ist Dr. Campbell das zweite Todesopfer dieses Anschlags,
der während des
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