Der Name der Finsternis: Roman (German Edition)
den Geschäften und Marktständen treiben. Es gab
kein Liga-Zentrum in Nepal, dachte er, all diese Menschen waren noch unberührt vom Geist des Hju, lebten ihr Leben, beteten ihre Götter und Buddhas an,
ohne je von der Macht des Mahaguru gehört zu haben. Aron wurde bewusst, dass er seit vielen Jahren zum ersten Mal völlig losgelöst von der Liga war. Hier
gab es keine Akademie, kein Zentrum, keine Atmas, keine EHs. Der Lirep, der für Nepal verantwortlich war, residierte in Singapur. Die nepalische Regierung
sträubte sich, öffentliche Werbemaßnahmen der Liga zuzulassen, denn die Liga verfügte in diesem Land zu Füßen des Himalaja nicht über einflussreiche
Fürsprecher. Für einen Augenblick glaubte Aron, diese Abgetrenntheit wie einen Hauch von Freiheit zu spüren, dann erinnerte er sich, dass er durch das Hju,
unabhängig von Zeit und Raum, stets mit dem Mahaguru und den Nokam verbunden war, dass keine Trennung möglich war von ihrer allgegenwärtigen Macht. Und
doch ließ er auch den zweiten Tag verstreichen, ohne die Nummer anzurufen, die Judith ihm in jener Nacht mitgeteilt hatte. Er dachte an Ben, als er wieder
durch die Straßen streifte, als er in einem Reiseführer, den er an einem Straßenstand kaufte, die Namen der Tempel und Heiligtümer las, die er besichtigte.
Er versuchte, die Stadt mit den Augen des toten Freundes zu sehen, versuchte sich vorzustellen, wie Ben diese Flut der Bilder aufgenommen, in welche
poetischen Wendungen er sie gefasst hätte. Bens Tod hielt noch immer eine Wunde offen, einen ungenügend gekitteten Bruch in Arons neu gefundener Sicherheit
im Hju. Wenn er an Ben dachte, drangen Echos der alten Zweifel in seinen Geist, Ungewissheiten, die sich hier, in dieser fremden Stadt, unter diesen
Menschen, die gänzlich unberührt waren von der Liga, zu verstärken schienen. Nur durch das disziplinierte Singen des Hju vermochte Aron sie abzuschütteln.
Ohne Unterlass versuchte Aron sich gewahr zu sein, dass er die Macht des Hju in sich trug, dass sie aus ihm zu all diesen Menschen floss, dass er vom
Mahaguru ausersehen war, die Große Einweihung zu erhalten, die tiefsten Mysterien der Nokam zu ergründen.
Am Stupa von Boudhnath sah Aron zum ersten Mal tibetische Mönche, junge Männer in rostroten Roben, die sich fröhlich lachend und plaudernd um einen
Marktstand drängten, an dem Gebetsfahnen und Räucherwerk verkauft wurden. Ben hatte ihm erzählt, dass die Mönche in tibetischen Klöstern eine
jahrzehntelange Ausbildung erhielten, gegen die die vier Trimester an der Liga-Akademie Kinderspiel waren. Zugleich hatte er gelernt, dass die Liga allen
Religionen und spirituellen Wegen des Planeten hoch überlegen, dass allein der Mahaguru fähig war, echte geistige Unterweisungen zu erteilen und auf dem
Weg zur Erleuchtung zu führen.
In Pashupatinath, zwischen den Feuern der Scheiterhaufen, sah Aron Yogis am Ufer des Flusses meditieren, ausgemergelte Asketen, regungslos in Versenkung
verharrend, gelassen den Tod erwartend, der an diesem heiligen Ort zu ihnen kommen würde. Aron starrte sie verständnislos an, voll Ekel vor den brennenden
Leichen, dem süßlichen Rauch, den ihm der Wind ins Gesicht wehte und doch berührt von eigentümlicher Faszination. Ben hatte einmal darüber gesprochen, dass
die heiligen Männer Indiens an Verbrennungsstätten und Leichenäckern meditierten, um sich beständig die Vergänglichkeit allen Seins vor Augen zu führen. In
der Liga wurden solche Praktiken als extrem und unzeitgemäß betrachtet, als unnötig für wahre geistige Entfaltung, die allein das Hju und der Mahaguru in
einem hingebungsvollen Atma hervorzubringen vermochten. Die Akademiestudenten pflegten sich über die Gebräuche der Religionen lustig zu machen oder sie mit
arroganter Herablassung als ritualisierte Irrwege abzuwerten. Und doch hatte Ben viel gelesen über andere Religionen, obwohl das in der Liga nicht gerne
gesehen war. Es gab Schriften zum internen Gebrauch an der Akademie, in denen die Weltreligionen aus Sicht der Liga behandelt wurden, andere Bücher über
solche Themen waren verpönt. Dies war eines der vielen ungeschriebenen Gesetze, die jeder Atma, der in die höheren Ränge der Einweihungen aufsteigen
wollte, kannte und befolgte, um die Ben sich aber in den letzten Monaten seines Lebens kaum mehr gekümmert hatte.
Aron verlor sich in Erinnerungen an Ben, als er, vorbei an Statuen von Buddhas und heiligen Tieren, die Treppe zum Stupa von
Weitere Kostenlose Bücher