Der Name der Rose
löscht damit ein konkretes Dasein aus, das heißt eine reale Existenz, die als solche gut war, jedenfalls in den Augen Gottes, der sie geschaffen und am Leben erhalten hatte. Scheint dir das ein guter Grund, auf den Unterschieden zu insistieren?«
»Ja, Meister, sicherlich«, antwortete ich begeistert. »Und nun verstehe ich auch, warum Ihr so redet, und bewundere Eure treffliche Philosophie.«
»Es ist nicht die meine«, sagte William bescheiden, »und ich weiß auch nicht, ob sie wirklich zutrifft. Aber das Entscheidende ist, daß du verstanden hast. Nun zu deiner zweiten Frage.«
»Ach, Meister«, seufzte ich, »mir scheint, ich bin nur ein tumber Tor. Es gelingt mir nicht, die akzidentalen Unterschiede zwischen den zahllosen Gruppen und Kategorien von Ketzern herauszufinden, heißen sie nun Waldenser, Katharer, Albigenser, Humiliaten, Beginen, Begharden, Lollarden, Lombarden, Joachimiten, Patarener, Apostoliker, lombardische Pauperes, Arnoldisten, Wilhelmiten, Anhänger der Bewegung des Freien Geistes oder Luziferianer und so weiter. Was soll ich nur tun?«
»Ach, mein armer Adson«, lachte William und klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter, »du hast vielleicht gar nicht so unrecht. Sieh mal, man könnte sagen: In den letzten beiden Jahrhunderten, oder auch schon länger, wird diese unsere Welt immer wieder durchweht von Böen des Aufruhrs, der Hoffnung und zugleich der Verzweiflung . . . Oder nein, das ist keine gute Allegorie. Denk lieber an einen großen Fluß, einen mächtigen Strom, der über weite Strecken zwischen festen Dämmen einherfließt, so daß man genau weiß, wo der Fluß ist, wo der Damm und wo das feste Land. An einem bestimmten Punkt aber tritt der Strom über seine Ufer – aus Trägheit vielleicht, weil er schon zu lange und durch zu viele Länder geflossen ist, weil er sich dem Meer nähert, das alle Flüsse und Ströme in sich aufnimmt – und weiß selbst nicht mehr recht, wo sein wahres Bett ist. Er wird zu seinem eigenen Delta. Vielleicht bleibt noch ein Hauptarm bestehen, aber viele Seitenarme verzweigen sich in alle Richtungen, einige fließen auch wieder zusammen, und du kannst nicht mehr unterscheiden, was Ursache ist und was Wirkung, manchmal weißt du nicht einmal mehr, was noch Strom ist und was bereits Meer . . .«
»Wenn ich Eure Allegorie richtig verstehe, meint Ihr mit dem Strom die Stadt Gottes oder das Reich der Gerechten, das sich dem Jahrtausend nähert und sich in dieser Ungewißheit nicht mehr zu halten vermag, so daß falsche und echte Propheten aufkommen und alles sich zügellos in die Große Ebene ergießt, wo das Armageddon stattfindet . . .«
»Das habe ich nicht unbedingt gemeint. Gewiß hat sich gerade bei uns Franziskanern stets die Idee des Dritten Weltzeitalters und des Anbruchs des Regnum Spiritus Sancti lebendig gehalten. Aber ich wollte dir eher begreiflich machen, wie der Leib der Kirche, der jahrhundertelang identisch war mit dem Leib der ganzen Gesellschaft, mit dem Populus Dei, allmählich zu füllig geworden ist, zu dick und zu schwer, da er die Schlacken all jener vielen Länder und Gegenden mit sich schleppt, durch die er gezogen ist, und infolgedessen seine ursprüngliche Reinheit verloren hat. Die vielen Arme des Deltas sind, wenn du so willst, ebensoviele Versuche des Stromes, sich möglichst rasch ins Meer zu ergießen, das heißt dem Ort und Zeitpunkt seiner großen Reinigung entgegen. Aber auch diese Allegorie ist unzureichend, sie sollte dir lediglich klarmachen, wie die Arten und Ausuferungen der Ketzerei und der diversen Reformbewegungen sich vervielfachen und ineinanderfließen, wenn der Strom die Dämme durchbricht. Du kannst mein dürftiges Bild auch um das einer Gruppe von Männern bereichern, die nach Kräften bemüht sind, die Dämme zu reparieren, aber meistens vergeblich. Einige Seitenarme des Deltas versickern auch wieder oder können zugeschüttet werden, andere werden durch rasch ausgehobene Kanäle in den Hauptarm
zurückgeleitet, wieder andere läßt man frei dahinfließen, schließlich kann man nicht alles eindämmen, und es ist gut für den Strom, einen Teil seines Wassers zu verlieren, wenn er seine Grundrichtung beibehalten, wenn er einen erkennbaren Verlauf haben will.«
»Ich verstehe immer weniger.«
»Zugegeben, ich bin wohl nicht sehr begabt im Erfinden von Allegorien. Vergiß die Geschichte vom Strom. Versuche lieber zu verstehen, daß viele der Bewegungen, deren Namen du aufgezählt hast, vor
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