Der Name der Rose
Nachsicht (als wollte er sagen: »Fürchte dich nicht, du stehst hier vor einem brüderlichen Kollegium, das gar nicht anders kann, als dein Bestes zu wollen«), aus eisiger Ironie (als wollte er sagen: »Du weißt noch nicht, was dein Bestes ist, aber ich werde es dir gleich sagen«) und aus gnadenloser Strenge (als wollte er sagen: »In jedem Falle bin ich dein einziger Richter und du gehörst mir«). All das wußte der Cellerar längst, doch der lauernde Blick und das Schweigen des Inquisitors dienten dazu, es ihm erneut ins Gedächtnis zu rufen, ja es ihn geradezu körperlich spüren zu lassen, auf daß er – statt es zu vergessen – sein Wissen als zusätzliche Belastung empfinde, auf daß seine Angst zur Verzweiflung werde und er zum willenlosen Objekt, zum knetbaren Wachs in den Händen des Richters.
Endlich brach Bernard das lastende Schweigen, murmelte ein paar rituelle Formeln und sagte, zu den Beisitzern gewandt, man werde nun zum Verhör des Angeklagten schreiten. Eines Angeklagten, präzisierte er, dem zwei gleichermaßen ruchlose Verbrechen zur Last gelegt würden: das eine liege offen vor aller Augen zutage, das andere sei indessen nicht minder ruchlos, denn man habe den Angeklagten bei einem Mord ertappt, als man ihn suchte wegen Verdachtes auf Häresie.
Das Wort war heraus. Der Cellerar schlug sich die Hände vor das Gesicht, was ihm Mühe bereitete, denn sie lagen in Ketten, und Bernard begann das Verhör.
»Wer bist du?«
»Remigius von Varagine. Ich bin vor zweiundfünfzig Jahren geboren und noch als Knabe in das Minoritenkonvent von Varagine eingetreten.«
»Und wieso befindest du dich jetzt im Orden des heiligen Benedikt?«
»Vor vielen Jahren, als der Papst die Bulle Sancta Romana ausgab, dachte ich . . . aus Furcht vor einer Ansteckung durch die Häresie der Fratizellen . . . obwohl ich niemals ein Anhänger ihrer Lehren gewesen war . . . daß es besser wäre für meine sündige Seele, mich einer Umwelt voller Versuchungen zu entziehen, und bewarb mich erfolgreich um Aufnahme in die Bruderschaft dieser Abtei, der ich nunmehr seit über acht 233
Der Name der Rose – Fünfter Tag
Jahren als Cellerar diene.«
»Du hast dich den Versuchungen der Häresie entzogen«, höhnte der Inquisitor, »oder präziser gesagt den Untersuchungen derer, die eingesetzt worden waren, um die Häresie aufzudecken und das Unkraut auszurotten, und die guten Cluniazensermönche glaubten, sie täten einen Akt der Barmherzigkeit, als sie dich und deinesgleichen aufnahmen. Doch ein Wechsel der Kutte genügt nicht, um das Schandmal der häretischen Entartung aus der Seele zu tilgen, und darum sind wir jetzt hier, um zu untersuchen, was sich in den verborgenen Winkeln deiner unbußfertigen Seele regt und was du getan hast, bevor du an diesen heiligen Ort gekommen bist.«
»Meine Seele ist unschuldig, und ich weiß nicht, was Ihr meint, wenn Ihr von häretischer Entartung sprecht«, sagte der Cellerar vorsichtig.
»Seht Ihr?« rief Bernard aus und wandte sich an die beisitzenden Richter. »So reden sie alle! Wenn einer von ihnen gefaßt wird, tritt er vor das Gericht, als ob sein Gewissen ruhig und rein wäre. Dabei wissen sie nicht, daß eben dies das deutlichste Zeichen ihrer Schuld ist, denn die Gerechten zeigen sich unruhig im Prozeß. Fragt ihn doch einmal, ob er weiß, warum ich seine Verhaftung veranlaßt habe. Weißt du es, Remigius?«
»Herr Inquisitor«, antwortete der Cellerar, »ich wäre froh, es aus Eurem Munde zu erfahren.«
Ich war überrascht, denn mir schien, daß der Angeklagte auf rituelle Fragen ebenso rituelle Antworten gab, als ob er die Regeln des Kreuzverhörs und die möglichen Fangfragen alle schon bestens kannte und seit langem auf eine solche Situation vorbereitet war.
»Genau das«, ertönte es jetzt von Bernard, »ist die typische Antwort der unbußfertigen Ketzer! Sie winden sich schlau wie die Füchse, und es ist überaus schwer, sie zu fassen, denn ihre Gemeinde gestattet ihnen zu lügen, um der verdienten Strafe zu entgehen. Sie greifen zu gewundenen Antworten, um den Inquisitor zu täuschen, der schon genug damit geschlagen ist, daß er den Kontakt mit diesen widerwärtigen Leuten ertragen muß . . . Also du willst behaupten, Fra Remigius, du habest niemals etwas zu tun gehabt mit den sogenannten Fratizellen oder Brüdern des armen Lebens oder Beginen?«
»Ich habe die bewegten Jahre der Minderen Brüder miterlebt, als lang und breit über die Armut diskutiert wurde, aber
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