Der Name der Rose
versöhnlich. »Aber jetzt ist er ein Mönch wie du, und du schuldest ihm brüderlichen Respekt.«
»Ja schon, aber er steckt seine Nase dauernd in Sachen rein, die ihn nichts angehen, weil er unter dem Schutz des Cellerars steht, und er hält sich selber schon für den Cellerar. Er benutzt die Abtei, als ob sie ihm gehörte, bei Tag und bei Nacht.«
»Wieso bei Nacht?« fragte William, aber der Küchenmeister hob nur stumm die Hände zu einer Geste, die wohl besagen sollte, daß er von so schändlichen Dingen nicht sprechen wolle. William fragte denn auch nicht weiter und schlürfte friedlich seine Milch.
Meine Neugier wurde größer und größer. Die Begegnung mit Ubertin, die Andeutungen über die Vergangenheit Salvatores und des Cellerars, die immer häufigeren Anspielungen auf die Fratizellen und häretischen Minoriten, die ich in diesen Tagen gehört, schließlich Williams Zurückhaltung heute morgen auf meine Frage nach Fra Dolcino – all das ging mir durch den Sinn und verband sich mit anderen Bildern zu einem verwirrenden Reigen. So waren wir auf unserer Reise mindestens zweimal einer Bußprozession von Flagellanten begegnet. Das eine Mal schienen die Leute im Ort sie fast als Heilige zu betrachten, das andere 78
Der Name der Rose – Zweiter Tag
Mal murrten sie etwas von Ketzern. Dabei handelte es sich beide Male um dieselben Büßer. Sie zogen in Zweierreihen durch die Stadt, bekleidet nur mit einem knappen Lendenschurz, denn offenbar hatten sie jedes Gefühl der Scham verloren. Mit kurzen Lederpeitschen schlugen sie sich und einander die Rücken blutig, und dabei schrien sie, heulten laut und vergossen heiße Tränen, als ob sie mit eigenen Augen die Passion des Erlösers schauten, und flehten mit schrillen Klagegesängen um die Barmherzigkeit Gottes und die Fürbitte der Heiligen Jungfrau. Und nicht nur bei Tag, auch nachts in der eisigen Kälte zogen sie mit Kerzen in langer Prozession durch die Kirchen und warfen sich demütig vor den Altären nieder, geführt von Priestern mit Fackeln und Weihrauchgefäßen, und nicht nur Männer und Frauen aus dem einfachen Volk waren es, auch noble Damen und reiche Kaufleute . . . Und dann taten sie allesamt feierlich Buße, wer etwas geraubt hatte, gab es reuig zurück, andere beichteten laut ihre schlimmen Verbrechen . . .
William aber hatte das Schauspiel kühl betrachtet und mir gesagt, das sei keine wahre Buße. Schon damals hatte er ähnlich gesprochen wie heute morgen: Die Zeit der großen büßerischen Erneuerung sei vorbei, und dies hier seien die Formen, in welche die Priester das Verlangen des Volkes nach frommer Hingabe kanalisierten, damit es nicht einem anderen Verlangen anheimfalle, einem Verlangen nach Buße, das als ketzerisch gelte und allen Angst mache. Mir gelang es allerdings nicht, den Unterschied zu erkennen, wenn es denn einen gab. Mir schien, daß der Unterschied weniger aus den verschiedenen Akten der Büßer kam als aus den verschiedenen Blickwinkeln, unter welchen die Kirche diese Akte betrachtete und beurteilte.
Als ich weiter darüber nachdachte, kam mir Williams Disput mit Ubertin in den Sinn. Zweifellos hatte William dem Alten sehr zugesetzt, als er ihm weismachen wollte, daß zwischen seinem mystischen (und orthodoxen) Glauben und dem Irrglauben der Ketzer kein großer Unterschied sei. Ubertin hatte sich sehr darüber erregt wie einer, der den Unterschied klar erkennt. Ich hatte daraus den Eindruck gewonnen, daß Ubertin eben deswegen anders war, weil er den Unterschied klar zu sehen vermochte. William dagegen hatte das Amt des Inquisitors niedergelegt, weil er den Unterschied nicht mehr hinreichend klar zu sehen vermochte. Und deswegen hatte er auch heute morgen nicht offen mit mir über jenen geheimnisvollen Fra Dolcino sprechen können. Aber wenn das so war, dann hatte William – so sagte ich mir – offensichtlich den Beistand des Herrn verloren, der nicht nur den Unterschied zu erkennen lehrt, sondern der seine Erwählten mit dieser Differenzierungsfähigkeit gleichsam durchtränkt. Ubertin und Clara von Montefalco waren Heilige geblieben (obwohl letztere von Sündern umgeben war), eben weil sie zu differenzieren vermochten.
Das nämlich und nichts anderes ist die wahre Heiligkeit.
Aber warum vermochte William in dieser Sache nicht mehr zu differenzieren? Er war doch sonst ein so scharfsichtiger Mann, und was die Erscheinungen der Natur betraf, so konnte er noch die kleinsten Unterschiede und die geringsten
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