Der Name der Rose
die Möglichkeit böte, dadurch die Macht und das Ansehen ihrer Väter zu mehren! Aber Nachsicht gegenüber den säkularen Interessen wird hier nur geübt, wenn es darum geht, den Deutschen zu erlauben, die . . . Oh gütiger Herr, verschließ mir den Mund, ich sage sonst Dinge, die sich nicht ziemen!«
»Geschehen in dieser Abtei unziemliche Dinge?« fragte William zerstreut, während er sich noch ein wenig Milch eingoß.
»Auch Mönche sind Menschen«, sagte Aymarus sentenziös. Dann fügte er hinzu: »Aber hier sind sie es weniger als woanders. Und was ich Euch gesagt habe, habe ich selbstverständlich niemals gesagt.«
»Sehr interessant«, kommentierte William. »Und sind das nur Eure Ansichten, Bruder Aymarus, oder denken hier viele so?«
»Viele. Viele von denen, die jetzt das Unglück des armen Adelmus beklagen – aber wenn jemand anders in den Abgrund gestürzt wäre, jemand, der sich mehr in der Bibliothek zu schaffen macht, als er sollte, wären sie nicht so betrübt . . .«
»Was wollt Ihr damit sagen?«
»Ich habe schon zuviel gesagt. Wir reden hier alle zuviel, das habt Ihr gewiß schon bemerkt. Niemand respektiert mehr das Schweigegebot – auf der einen Seite. Auf der anderen wird es zu sehr respektiert. Statt zu reden oder zu schweigen müßte hier endlich einmal gehandelt werden. In den goldenen Zeiten unseres Ordens genügte ein schöner Becher vergifteten Weines, wenn der Abt nicht die nötigen Qualitäten besaß, und schon war die Nachfolgefrage offen . . . Ihr versteht mich doch hoffentlich recht, Bruder William, ich habe das alles nicht etwa gesagt, um gegen den Abt oder andere Mitbrüder zu intrigieren! Gott behüte, ich bin glücklicherweise völlig unfähig, irgendwelche Intrigen zu spinnen. Aber ich fände es schlimm, wenn der Abt Euch etwa gebeten hätte, über mich oder Mitbrüder wie zum Beispiel Pacifico von Tivoli oder Pietro von Sant'Albano Nachforschungen anzustellen. Wir Italiener haben mit diesen Geschichten um die Bibliothek nichts zu tun. Allerdings würden wir gern ein wenig genauer wissen, was in ihr vorgeht. Also los, Bruder William, hebt den Deckel von diesem Schlangennest, Ihr, die Ihr schon so viele Ketzer verbrannt habt!«
»Ich habe noch nie einen Menschen verbrannt«, erwiderte William kühl.
»Ich habe das auch nur so hingesagt«, entschuldigte sich Aymarus mit breitem Grinsen. »Gute Jagd, Bruder William! Aber seid bei Nacht auf der Hut!«
»Wieso nicht auch bei Tage?«
»Bei Tage werden hier die Körper mit guten Kräutern gepflegt, und bei Nacht werden dann die Geister mit bösen Kräutern vergiftet. Glaubt nicht, daß Adelmus von der Hand eines Menschen in die Tiefe gestürzt worden ist, glaubt nicht, daß die Hand eines Menschen Venantius ins Blut getaucht hat! Es gibt hier 80
Der Name der Rose – Zweiter Tag
jemanden, der nicht will, daß die Mönche selber entscheiden können, wohin sie gehen, was sie tun und welche Bücher sie lesen. Und um die Sinne der Neugierigen zu verwirren, benutzt dieser Jemand die Kräfte der Hölle, beziehungsweise die Kräfte der mit der Hölle verbündeten Schwarzen Magie . . .«
»Sprecht Ihr vom Bruder Botanikus?«
»Severin von Sankt Emmeram ist ein braver Mann. Aber natürlich, auch er ist ein Deutscher, genau wie Malachias . . .« Und nach dieser erneuten Demonstration seiner Unfähigkeit, Intrigen zu spinnen, verließ uns der brave Aymarus von Alessandria, um sich an seine Arbeit zu machen.
»Was hat er uns sagen wollen?« fragte ich William.
»Alles und nichts. In jeder Abtei gibt es Mönche, die einander befehden, um sich das Regiment über die Gemeinschaft zu sichern. Auch in Melk wird es kaum anders sein, du hast es nur als Novize noch nicht bemerkt. Aber wer in deiner Heimat die Herrschaft über eine Abtei gewinnt, beherrscht damit einen Ort, von dem aus unmittelbar mit dem Kaiser verhandelt wird. Hier in Italien ist das anders, der Kaiser ist weit, auch wenn er zuweilen nach Rom fährt. Hier gibt es keinen zentralen Hof, inzwischen nicht einmal mehr den des Papstes. Aber dafür gibt es hier Städte, du hast sie gesehen.«
»Ja, und ich habe gestaunt. Die Städte hier in Italien sind etwas ganz anderes als in meiner Heimat. Sie sind nicht nur Orte zum Wohnen, sondern auch Orte, an denen Entscheidungen gefällt werden. Alle Bürger sind ständig im Freien, auf den Straßen und Plätzen, der Magistrat hat mehr zu sagen als der Kaiser oder der Papst. Sie sind fast ein wenig . . . wie kleine Reiche . .
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