Der Name der Rose
Darstellung eines mythischen Tieres oder eines Heiligen. Er pflegte dann mit seinen 82
Der Name der Rose – Zweiter Tag
erloschenen Augen ins Leere zu starren, als lese er Buchseiten, die er alle genauestens im Gedächtnis hatte, und erklärte etwa, daß die falschen Propheten gekleidet seien wie Bischöfe, aber Kröten kämen aus ihrem Mund, oder welche Steine die Mauern des himmlischen Jerusalem schmückten, oder daß die Arimaspen auf den Landkarten nahe dem Land Aithiopia dargestellt werden müßten – aber man solle sie nicht zu verführerisch in ihrer Scheußlichkeit darstellen, es genüge, sie emblematisch anzudeuten, so daß sie erkennbar seien, aber nicht begehrenswert oder abstoßend bis zur Lächerlichkeit.
Einmal hörte ich ihn einem Scholiasten raten, wie er die Recapitulatio in den Texten des Tyconius dergestalt interpretieren könne, daß der Geist des heiligen Augustinus gewahrt bleibe und die donatistische Häresie vermieden werde. Ein andermal hörte ich ihn erklären, wie man beim Kommentieren den Unterschied zwischen Häretikern und Schismatikern klar herausstellt. Auch hörte ich ihn dabei einem verblüfften Studiosus sagen, welches Buch er im Bibliothekskatalog hätte suchen müssen und auf welcher Seite er es gefunden hätte – nicht ohne dem also Beratenen zu versichern, daß der Bibliothekar es ihm gewiß aushändigen würde, da es sich um ein von Gott inspiriertes Werk handele. Dann wiederum hörte ich ihn erklären, daß man ein bestimmtes Buch gar nicht erst zu suchen brauche; es sei zwar im Katalog aufgeführt, aber bereits vor fünfzig Jahren so gründlich von Mäusen zerfressen worden, daß es nun bei der geringsten Berührung zu Staub zerfallen werde . . . Kurzum, Jorge war das personifizierte Gedächtnis der Bibliothek und die Seele des Skriptoriums. Von Zeit zu Zeit pflegte er die Mönche, wenn er sie miteinander schwatzen hörte, streng zu ermahnen: »Sputet euch, Zeugnis der Wahrheit abzulegen, die Zeit ist nahe!« – und alle wußten dann, daß er die baldige Ankunft des Antichrist meinte.
»Die Bibliothek ist Zeugnis der Wahrheit wie des Irrtums«, sagte er also nun.
»Zweifellos haben Lukianos und Apuleius viele Irrtümer begangen«, sagte daraufhin William. »Aber diese Fabeln enthalten unter dem Schleier ihrer dichterischen Fiktionen auch eine gute Moral, denn sie lehren, wie teuer der Mensch für seine Sünden bezahlen muß, und außerdem glaube ich, daß die Fabel von dem in einen Esel verwandelten Manne auf die Metamorphose der sündig gewordenen Seele anspielt.«
»Mag sein«, knurrte Jorge.
»Und nun wird mir auch klar, warum Venantius neulich in jenem Streitgespräch, auf das er Euch gestern ansprach, so an den Problemen der Komödie interessiert war. Tatsächlich lassen sich nämlich diese Fabeln mit den Komödien der Alten vergleichen: Beide erzählen sie nicht von Menschen, die in der Wirklichkeit existiert haben, wie es die Tragödien tun, sondern sind Fiktionen. Wie Isidor sagte: › fabulas poetae a fando nominaverunt, quia non sunt res factae sed tantum loquendo fictae ‹ . . .«
Im ersten Moment verstand ich nicht, wieso William plötzlich solch einen gelehrten Disput vom Zaun brach, noch dazu mit einem Manne, der diese Themen nicht gerade liebte. Aber die Antwort Jorges zeigte mir einmal mehr, wie subtil und geschickt mein kluger Meister vorging.
»An jenem Tage wurde nicht über Komödien diskutiert, sondern allein über das Erlaubtsein des Lachens«, erwiderte nämlich der Alte schroff – und sofort mußte ich daran denken, daß er am Vortag, als Venantius ihn auf jene Diskussion angesprochen hatte, sich angeblich nicht mehr daran erinnern konnte.
»Ach so«, sagte William ohne besondere Betonung, »ich dachte, Ihr hättet über die Lügen der Dichter und über die geistreichen Rätsel gesprochen.«
»Wir sprachen über das Lachen«, erklärte der Blinde bündig. »Die Komödien wurden von Heiden geschrieben, um die Leute zum Lachen zu bringen, und das war schlecht. Unser Herr Jesus hat weder Komödien noch Fabeln erzählt, ausschließlich klare Gleichnisse, die uns allegorisch lehren, wie wir ins Paradies gelangen, und so soll es bleiben!«
»Ich frage mich«, sagte William, »warum Ihr so abweisend gegen den Gedanken seid, daß Jesus gelacht haben könnte. Ich für meinen Teil halte das Lachen durchaus für ein gutes Heilmittel, ähnlich dem Baden, um die schlechten Körpersäfte und andere Leiden des Körpers zu kurieren, insbesondere die
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