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Der Name der Rose

Der Name der Rose

Titel: Der Name der Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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gestrengen Greises nicht eine Aufforderung an uns sein sollte, das Skriptorium umgehend zu verlassen. Aber William, der eben noch so kämpferisch aufgetrumpft hatte, wurde nun plötzlich ganz sanft.
    »Ich bitte Euch um Vergebung, ehrwürdiger Jorge«, sagte er. »Mein Mund hat meine Gedanken verraten, ich wollte Euch nicht zu nahetreten. Vielleicht habt Ihr recht und ich war im Irrtum.«
    Jorge quittierte diesen Akt subtiler Demut mit einem Grunzen, das ebensogut Befriedigung wie Vergebung ausdrücken mochte, und begab sich – es blieb ihm nichts anderes übrig – an seinen Platz zurück, während die Mönche, die im Laufe der Diskussion herbeigeströmt waren, sich wieder an ihre Arbeit machten. William kniete sich vor den Arbeitstisch des Venantius und durchforschte weiter das flache Regal.
    Mit seiner unterwürfigen Antwort hatte er sich ein paar Sekunden Ruhe erkämpft. Und was er in diesen wenigen Augenblicken sah, veranlaßte ihn zu den Nachforschungen der kommenden Nacht.
    Es waren jedoch in der Tat nur ein paar Sekunden, denn schon trat Benno von Uppsala näher, tat so, als habe er seinen Stift auf dem Tisch liegengelassen, als er gekommen war, um der Diskussion zu folgen, und flüsterte William ins Ohr, er müsse ihn dringend sprechen, er bitte ihn um ein Treffen hinter dem Badehaus, es sei vielleicht gut, schon einmal vorauszugehen, er werde gleich nachkommen.
    William zögerte einen Moment. Dann rief er Malachias, der den ganzen Vorfall von seinem Tisch aus verfolgt hatte, und bat ihn im Namen seines vom Abt erteilten Mandates (und William betonte nachdrücklich dieses sein Privileg), unverzüglich jemanden als Wache an Venantius' Tisch zu postieren, denn es sei für die Untersuchung sehr wichtig, daß niemand diesen Tisch berühre, bis er, William, wieder zurückkehren werde. Er sagte das mit lauter Stimme, um auf diese Weise nicht nur Malachias zur Bewachung der Mönche zu verpflichten, sondern auch die Mönche zur Bewachung Malachias'. Dem Bibliothekar blieb nichts anderes übrig, als die Bitte zu gewähren, und so ging William mit mir hinaus.
    Während wir durch den Garten schritten, um das Badehaus zu erreichen, das auf der Rückseite des 85
    Der Name der Rose – Zweiter Tag
    Hospitals lag, sagte William:
    »Es scheint vielen zu mißfallen, daß ich etwas in die Hand bekomme, was sich auf oder unter Venantius'
    Tisch befindet.«
    »Und was sollte das sein?«
    »Das wissen wohl nicht einmal jene genau, denen es mißfällt.«
    »Demnach hätte Benno uns gar nichts zu sagen, sondern will uns nur möglichst weit vom Skriptorium weglocken?«
    »Das werden wir ja gleich sehen«, erwiderte William. Und tatsächlich traf Benno kurz darauf ein.
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    Der Name der Rose – Zweiter Tag
    ZWEITER TAG
    SEXTA
    Worin Benno seltsame Dinge erzählt, aus denen man wenig Erbauliches über das Klosterleben erfährt.
    Was uns Benno zu sagen hatte, klang einigermaßen konfus. Es schien wirklich, als hätte er uns nur an diesen entlegenen Ort gelockt, um uns aus dem Skriptorium zu entfernen. Aber es schien auch, daß er –
    unfähig, einen halbwegs glaubwürdigen Vorwand zu erfinden – uns Bruchstücke einer Wahrheit aufdeckte, die weiterreichte, als er selber es ahnte.
    Heute morgen, so begann er, habe er noch gezögert, aber jetzt sei er nach reiflicher Überlegung der Ansicht, daß William die ganze Wahrheit erfahren müsse. Während jener berühmten Diskussion über das Lachen neulich habe Berengar auf ein »finis Africae« angespielt. Was könnte er damit gemeint haben? Die Bibliothek sei voller Geheimnisse und insbesondere voller Bücher, die noch keiner der Mönche hier je habe lesen dürfen. Was William vorhin über die rationale Prüfung der Meinungen sagte, habe ihm sehr gefallen, erklärte uns Benno. Er legte dar, daß seines Erachtens ein forschender Mönch das Recht haben müsse, alle Schätze der Bibliothek zu kennen, er sagte heftige Worte gegen das Konzil zu Soissons, das Abaelard als Ketzer verurteilt hatte, und während er redete, wurde uns klar, daß dieser noch junge Mönch und Student der Rhetorik von einem heißen Unabhängigkeitsstreben erfüllt war und nur mit Mühe die Fesseln ertrug, die das strenge Reglement der Abtei dem Wissensdrang seines Intellekts auferlegte. Mir war seit jeher beigebracht worden, solchem Wissensdrang zu mißtrauen, aber ich wußte, daß er meinem neuen Lehrer durchaus nicht mißfiel, und tatsächlich bemerkte ich, daß William den jungen Eiferer mit Sympathie betrachtete

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