Der Name der Rose
Herr, wie wir selber vorhin bemerkten. Er wird den Beichtenden hart getadelt und ihm höllische Strafen angedroht haben.
Vielleicht hat er ihm die Absolution verweigert, vielleicht hat er ihm eine unmögliche Buße auferlegt, wir wissen es nicht, und Jorge wird es uns niemals verraten. Tatsache ist jedenfalls, daß Adelmus danach in die Kirche rennt, um sich vor dem Altar niederzuwerfen, aber auch das besänftigt nicht seine Gewissensbisse.
Nun tritt Venantius zu ihm. Wir wissen nicht, was sie einander sagen. Vielleicht verrät ihm Adelmus das Geheimnis, das Berengar ihm als Geschenk (oder als Bezahlung) anvertraut hatte und das ihm nun wohl nichts mehr bedeutet, seit er ein viel schrecklicheres Geheimnis hat. Was tut daraufhin Venantius? Vielleicht eilt er mit Berengars Geheimnis davon, erfaßt von der gleichen Wißbegier, die heute auch unseren guten Benno gepackt hat, und überläßt Adelmus seinen Gewissensbissen. Adelmus jedenfalls sieht sich von allen verlassen, beschließt zu sterben, läuft verzweifelt hinaus auf den Friedhof und trifft dort Berengar. Er droht ihm mit furchtbaren Worten, macht ihn verantwortlich für sein Unglück und nennt ihn seinen Lehrer im schändlichen Treiben. Ich glaube wirklich, daß Berengars Erzählung, wenn man sie von allen halluzinatorischen Elementen reinigt, der Wahrheit entspricht. Adelmus hat einfach die Drohungen wiederholt, die er von Jorge gehört haben dürfte. Daraufhin läuft Berengar voller Entsetzen zur einen Seite davon und Adelmus voller Verzweiflung zur anderen, um sich in den Abgrund zu stürzen. Den Rest kennen wir, er hat sich fast vor unseren Augen abgespielt. Alle glauben, daß Adelmus umgebracht worden sei.
Venantius hat nun den Eindruck, daß dem Geheimnis der Bibliothek eine noch viel größere Bedeutung zukommt, als er bisher gedacht hatte, und versucht es auf eigene Faust zu ergründen. Bis ihn jemand aufhält, entweder bevor er ans Ziel gelangt ist oder danach . . .«
»Wer mag ihn getötet haben? Berengar?«
»Kann sein. Oder Malachias, der das Aedificium zu hüten hat. Oder jemand anders. Berengar ist verdächtig, weil er Angst hat und weil er wußte, daß Venantius sein Geheimnis kannte. Malachias ist verdächtig: Als Verantwortlicher für die Unantastbarkeit der Bibliothek entdeckt er, daß jemand sie verletzt hat, und tötet. Jorge weiß alles von allen, kennt das Geheimnis des armen Adelmus und will nicht, daß ich finde, was Venantius entdeckt haben könnte . . . Vieles läßt ihn verdächtig erscheinen. Aber bitte, sag du mir, wie kann ein Blinder jemanden töten, der im Vollbesitz seiner Kräfte ist? Und wie kann ein Greis, so rüstig er auch noch sein mag, die Leiche dann bis zu jenem Bottich im Hof schleppen? Doch warum könnte nicht schließlich auch Benno der Mörder sein? Er kann uns belogen haben, aus Gründen, die wir nicht kennen.
Und warum sollten wir überhaupt den Kreis der Verdächtigen auf die Teilnehmer an jenem
vielbeschworenen Streitgespräch über das Lachen beschränken? Vielleicht hat das Verbrechen ganz andere Motive, die gar nichts mit der Bibliothek zu tun haben? In jedem Fall gilt es jetzt zwei Dinge zu tun: herauszufinden, wie man nachts in die Bibliothek gelangt, und eine Lampe zu beschaffen. Kümmere du dich um die Lampe. Geh in die Küche, wenn das Essen bereitet wird, und sieh zu, daß du dir unbemerkt eine besorgen kannst . . .«
»Stehlen?!«
»Ausleihen, zur höheren Ehre Gottes.«
»Wenn das so ist, könnt Ihr auf mich zählen.«
»Bravo! Was den Zugang zum Aedificium betrifft, so haben wir gestern abend gesehen, wo Malachias aufgetaucht ist. Ich werde heute nachmittag einen Besuch in der Kirche machen und mir insbesondere jene Seitenkapelle ansehen. In einer Stunde gehen wir zum Essen. Danach sind wir zu einem Gespräch mit dem Abt verabredet. Du wirst dabeisein, denn ich habe ihn gebeten, einen Sekretär mitbringen zu dürfen, der sich Notizen über unsere Besprechung macht.«
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Der Name der Rose – Zweiter Tag
ZWEITER TAG
N ON A
Worin der Abt sich stolz auf die Reichtümer seiner Abtei und furchtsam vor Ketzern erweist und Adson am Ende bezweifelt, ob er gut daran tat, sich hinaus in die weite Welt zu begeben.
Wir fanden den Abt in der Kirche vor dem Hochaltar. Er überwachte die Tätigkeit einer Handvoll Novizen, die gerade aus dem Tabernakel eine Reihe geweihter Schalen, Kelche, Monstranzen und Hostienteller geholt hatten sowie ein Kruzifix, das mir beim Morgengottesdienst noch nicht
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