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Der Name der Rose

Der Name der Rose

Titel: Der Name der Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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einiger Zeit meditiert er über den neunten Vers im sechsten Kapitel der Apokalypse, wo von der Öffnung des fünften Siegels die Rede ist und wo der Apostel sagt: ›Ich sah unter dem Altar die Seelen derer, die erwürgt waren um des Wortes Gottes willen und um des Zeugnisses willen, das sie gegeben hatten. Und sie schrien mit großer Stimme und sprachen: Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, wie lange richtest du nicht und rächest unser Blut an denen die auf der Erde wohnen?‹ Und da der Apostel fortfährt: ›Und ihnen wurde gegeben einem jeglichen ein weißes Kleid, und ward zu ihnen gesagt, daß sie sich gedulden sollten noch eine kleine Zeit, bis daß vollends dazukämen ihre Mitknechte und Brüder‹ und so weiter, meint nun der Papst, das sei dahingehend zu deuten, daß sie erst nach Vollendung des Letzten Gerichts die Herrlichkeit Gottes schauen würden …«
    »Zu wem hat er das gesagt?« fragte Michael voller Bestürzung.
    »Bisher nur zu wenigen engen Vertrauten, aber die Sache hat sich herumgesprochen. Es heißt, er bereite eine Erklärung vor, nicht für heute und morgen, es dauert vielleicht noch ein paar Jahre, doch er berät sich mit seinen Theologen …«
    »Hm, hm!« grunzte Hieronymus kauend.
    »Aber damit nicht genug, er will anscheinend noch weiter gehen und sogar behaupten, daß auch die Hölle erst am Jüngsten Tage geöffnet werde, nicht einmal die Teufel kämen vorher hinein …«
    »Herr Jesus, steh uns bei!« rief Hieronymus voller Entsetzen. »Und was sollen wir dann den Sündern erzählen, wenn wir ihnen nicht mehr damit drohen können, daß sie gleich nach dem Tod in die Hölle kommen?«
    »Wir sind in den Händen eines Irren«, stellte Ubertin fest. »Aber ich verstehe nicht recht, warum er das alles behaupten will …«
    »Die ganze Ablaßlehre bricht zusammen«, lamentierte Hieronymus. »Auch er selbst wird keinen Sündenablaß mehr verkaufen können! Denn wieso sollte ein Priester, der Schamlosigkeiten begangen hat, so viele Goldpfunde zahlen, um einer Strafe zu entgehen, die noch so fern ist?!«
    »So fern nun auch wieder nicht«, widersprach Ubertin. »Die Zeiten sind nahe!«
    »Das weißt vielleicht du, lieber Bruder, aber die Laien wissen es nicht, da liegt doch das Problem!« erregte sich der Bischof von Kaffa, und es sah gar nicht mehr aus, als ob er sein Mahl noch genieße. »Was für eine unselige Idee! Das kommt bestimmt von diesen Predigerbrüdern … oh, oh!« Er jammerte laut unter heftigem Schütteln des Kopfes.
    »Aber warum, aus welchem Grund will der Papst diese Dinge behaupten?« fragte nun auch Michael von Cesena.
    »Ich glaube, es gibt dafür keinen vernünftigen Grund«, antwortete William. »Das Ganze ist eher wohl eine Machtprobe, die er sich selbst auferlegt, ein Akt seines Stolzes: Er will tatsächlich derjenige sein, der über Himmel und Erde entscheidet! Ich wußte bereits von diesen Gerüchten, William von Ockham hatte sie mir geschrieben. Aber warten wir ab, wer sich am Ende durchsetzen wird: der Papst oder die Theologen, die Stimme der ganzen Kirche, die Wünsche des christlichen Volkes, die Bischöfe …«
    »Ich fürchte«, sagte Michael düster, »in Fragen der Lehre wird er die Theologen auf seine Seite bringen.«
    »Das ist noch gar nicht gesagt«, meinte William. »Wir leben schließlich in Zeiten, in denen die Gottesgelehrten sich nicht mehr scheuen, den Papst zum Häretiker zu erklären. Und die Gottesgelehrten sind auf ihre Weise die Stimme des Volkes der Christenheit – gegen das heute nicht einmal mehr der Papst etwas ausrichten kann …«
    »Um so schlimmer«, murmelte Michael sorgenvoll. »Auf der einen Seite ein verrückt gewordener Papst, auf der anderen ein Volk, das bald den Anspruch erheben wird – sei's auch durch den Mund seiner Theologen –, die Heilige Schrift nach freiem Gutdünken auszulegen …«
    »Wieso?« fragte William. »Was habt ihr denn in Perugia anderes getan?«
    Michael zuckte zusammen, die Frage hatte ihn an der empfindlichsten Stelle getroffen. »Deswegen will ich ja mit dem Papst sprechen! Ohne seine Zustimmung sind wir machtlos.«
    »Warten wir's ab«, sagte William vieldeutig.
    Mein Meister war wirklich sehr scharfsinnig und weitblickend. Wie hatte er nur voraussehen können, daß Michael sich in Kürze auf die Seite der kaiserlichen Theologen und des Volkes schlagen würde, um, auf sie gestützt, den Papst zu verurteilen? Wie hatte er nur voraussehen können, daß vier Jahre später, als der Papst zum ersten

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