Der Name der Rose
Mal seine unglaubliche Lehre verkündete, ein empörter Aufschrei durch die ganze Christenheit ging? Wenn die Visio beatifica Dei , die seligmachende Anschauung Gottes im Paradies, so weit in die Ferne gerückt war, wie hätten dann die Verstorbenen Fürbitte für die Lebenden halten können? Und was wäre aus dem Heiligenkult geworden? Als erste machten die Minoriten Front gegen den Papst, und William von Ockham kämpfte an vorderster Linie, streng und unwiderleglich in seiner Argumentation. Der Kampf tobte volle drei Jahre lang, bis schließlich Johannes, dem Tode nahe, partiell widerrief. Jahre später erfuhr ich, wie er im Konzil vom Dezember 1334 auftrat, schmächtiger noch, als er jemals zuvor erschienen, ausgedörrt durch sein hohes Alter, neunzigjährig und moribund, und wie er bleichen Gesichtes erklärte (der geriebene Fuchs, der so gut mit Worten zu spielen verstand, nicht nur um seine Schwüre zu brechen, sondern auch um seine eigenen Aussagen zu negieren): »Wir bekennen und glauben, daß die vom Leibe getrennten und völlig gereinigten Seelen im Himmel sind, im Paradies bei den Engeln und bei Jesus Christus, und daß sie Gott schauen in seinem göttlichen Wesen, klar und von Angesicht zu Angesicht …«, und dann, nach einer kurzen Pause, von welcher niemals jemand erfuhr, ob sie Atembeschwerden entsprang oder dem perversen Willen, den Nachsatz als Adversativklausel zu unterstreichen, »… soweit es der Zustand und die Befindlichkeit der abgetrennten Seele gestatten.« – Am folgenden Morgen, es war ein Sonntag, ließ er sich auf einen Liegestuhl mit zurückgebogener Lehne betten, nahm die Handküsse seiner Kardinäle entgegen, und verschied.
Doch ich schweife schon wieder ab und erzähle Dinge, die nicht hierhergehören. Der Rest jenes Tischgespräches trägt allerdings auch nicht mehr viel zum Verständnis meiner Geschichte bei. Die Minoriten besprachen ihr Vorgehen für den nächsten Tag, bewerteten nacheinander ihre einzelnen Gegner und äußerten ihre Besorgnis, als sie von William erfuhren, daß auch Bernard Gui zu erwarten sei. Noch sorgenvoller wurden sie über die Nachricht, daß Kardinal Bertrand del Poggetto die päpstliche Legation anführen werde. Zwei Inquisitoren, das war zuviel! Offenbar hatte man vor, die Minoriten der Häresie zu bezichtigen!
»Und wenn schon«, meinte William tröstend, »dann werden wir eben die Avignoneser als Ketzer behandeln.«
»Nein, nein«, widersprach Michael, »wir müssen vorsichtig sein, wir dürfen kein mögliches Abkommen kompromittieren!«
»Ich kann mir nicht vorstellen«, entgegnete William, »obwohl ich mich, wie du weißt, lieber Michael, für die Verwirklichung dieses Treffens eingesetzt habe – ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß die Avignoneser mit der Absicht herkommen, irgendein positives Ergebnis zu erzielen. Johannes will dich in Avignon haben, allein und ohne Sicherheitsgarantien. Nur darum geht es. Immerhin wird das Treffen wenigstens einen Sinn haben: dir das in aller Deutlichkeit klarzumachen. Es wäre viel schlimmer, wenn du nach Avignon gingest, ohne diese Erfahrung gemacht zu haben.«
»Soll das heißen, daß du dich monatelang für eine Sache eingesetzt hast, die du für nutzlos hältst?« fragte Michael bitter.
»Ich bin darum gebeten worden, sowohl von dir wie vom Kaiser«, sagte William. »Und schließlich ist es niemals ganz nutzlos, seine Feinde besser kennenzulernen.«
In diesem Moment wurde uns gemeldet, daß die zweite Legation am Eintreffen war. Die Minoriten erhoben sich und gingen hinaus, um den Männern des Papstes entgegenzutreten.
NONA
Worin der Kardinal del Poggetto, der Inquisitor Bernard Gui und die übrigen Herren aus Avignon eintreffen und jeder von ihnen etwas anderes tut.
Männer, die einander seit langem kannten, Männer, die viel voneinander gehört hatten, ohne sich jemals persönlich begegnet zu sein, begrüßten einander im Hof mit scheinbarer Freundlichkeit. An der Seite des Abtes stand Kardinal Bertrand del Poggetto, sichtlich ein großer Herr, mit den Mächtigen dieser Welt auf vertrautem Fuße, als wäre er selber gleichsam ein zweiter Papst, und verteilte nach allen Seiten huldvoll lächelnde Blicke, insbesondere an die Minoriten, denen er gute Verständigung für die Gespräche des folgenden Tages wünschte und ausdrücklich auch die Friedens- und Segenswünsche (er benutzte bewußt diese den Franziskanern teure Formel) von Papst Johannes XXII. überbrachte.
»Brav, brav,
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