Der Name der Rose
Grundprinzipien. Es gleicht nicht einmal dem Sammeln von soundsovielen Einzeldaten, um aus ihnen dann auf ein allgemeines Gesetz zu schließen. Es ist eher so, daß man vor einer Anzahl von Tatsachen steht, die anscheinend nichts miteinander zu tun haben, und nun versuchen muß, sie sich als ebenso viele Einzelfalle eines allgemeinen Gesetzes vorzustellen, eines Gesetzes aber, das man nicht kennt und das womöglich noch nie formuliert worden ist. Gewiß, wenn du zum Beispiel wüßtest, wie der Philosoph sagt, daß der Mensch, das Pferd und das Maultier alle drei keine Galle haben und alle drei langlebig sind, dann könntest du versuchsweise das Prinzip aufstellen, daß alle Tiere, die keine Galle haben, langlebig sind. Aber nimm den Fall der Tiere mit Hörnern. Warum haben sie Hörner? Dir fällt plötzlich auf, daß alle Tiere mit Hörnern keine Zähne am Oberkiefer haben. Das könnte eine schöne Entdeckung sein, wenn du nicht bedenken müßtest, daß es leider auch Tiere ohne Zähne am Oberkiefer gibt, die trotzdem keine Hörner haben, wie das Kamel. Schließlich bemerkst du, daß alle Tiere ohne Zähne am Oberkiefer zwei Mägen haben. Gut, du kannst dir nun vorstellen, daß ein Tier mit zuwenig Zähnen nicht besonders gut kaut und daher zwei Mägen braucht, um seine Nahrung zu verdauen. Aber was ist mit den Hörnern? Du versuchst also, dir einen materiellen Grund für die Hörner vorzustellen, zum Beispiel daß der Mangel an Zähnen dem Tier ein Zuviel an Knochenmasse beschert, das irgendwo anders hervorspringen muß. Aber ist das eine hinreichende Erklärung? Nein, denn das Kamel hat zwar keine Zähne am Oberkiefer und dafür zwei Mägen, aber es hat keine Hörner. Also mußt du dir noch einen letzten Grund vorstellen. Die Knochenmasse springt nur bei jenen Tieren hervor, die keine anderen Verteidigungsmittel haben. Das Kamel hingegen hat eine sehr feste Haut und braucht keine Hörner. Infolgedessen könnte das Gesetz lauten …«
»Aber was redet Ihr da bloß dauernd von Hörnern?« fiel ich meinem Lehrer ungeduldig ins Wort. »Seit wann beschäftigt Ihr Euch mit Hornvieh?«
»Ich habe mich noch nie mit Hornvieh beschäftigt, aber der Bischof von Lincoln hat es ausgiebig getan in Fortführung eines Gedankens von Aristoteles. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, ob er die wahren Gründe gefunden hat, und ich habe auch niemals nachgesehen, wo beim Kamel die Zähne sitzen und wie viele Mägen es hat. Ich wollte dir nur vor Augen führen, daß die Suche nach Erklärungsgesetzen bei den Naturphänomenen sehr verschlungene Wege geht. Angesichts einiger unerklärlicher Tatsachen mußt du dir viele allgemeine Gesetze vorzustellen versuchen, ohne daß du ihren Zusammenhang mit den Tatsachen, die dich beschäftigen, gleich zu erkennen vermagst. Auf einmal, wenn sich unversehens ein Zusammenhang zwischen einem Ergebnis, einem Fall und einem Gesetz abzeichnet, nimmt ein Gedankengang in dir Gestalt an, der dir überzeugender als die anderen erscheint. Du versuchst, ihn auf alle ähnlichen Fälle anzuwenden, Prognosen daraus abzuleiten, und erkennst schließlich, daß du richtig geraten hast. Aber bis zuletzt weißt du nie, welche Prädikate du in deine Überlegung einführen sollst und welche du aufgeben mußt. Und genau in dieser Weise gehe ich vor, um das Geheimnis der Abtei zu lüften. Ich betrachte eine Anzahl unzusammenhängender Elemente und entwickele Hypothesen. Aber ich muß viele Hypothesen entwickeln, und manche davon sind so absurd, daß ich mich schämen würde, sie dir zu nennen … Denk nur, wie es neulich mit dem Rappen Brunellus war. Als ich die Spuren erblickte, entwickelte ich eine Reihe von Hypothesen, die einander ergänzten oder auch widersprachen: Es konnte ein entlaufenes Pferd gewesen sein; es konnte sein, daß der Abt auf seinem prächtigen Rappen ausgeritten war; es konnte sein, daß ein Rappe Brunellus die Spuren im Schnee und tags zuvor ein Rappe Favellus die Strähnen am Maulbeerstrauch hinterlassen hatte, während die Zweige von Menschen geknickt worden waren. Es gab viele Möglichkeiten, und ich wußte nicht, welche Hypothese die richtige war, bis ich den besorgt umherblickenden Cellerar mit seinem Suchtrupp sah. Da erst begriff ich, daß allein die Brunellus-Hypothese die richtige war, und prüfte ihre Richtigkeit durch die Art, wie ich die Mönche ansprach. Ich gewann das Spiel, aber ich hätte es ebensogut auch verlieren können. Die Mönche hielten mich für ungemein klug, weil ich gewonnen
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