Der Name der Rose
hatte, aber sie kannten die vielen Fälle nicht, in denen ich dumm gewesen war, weil ich verloren hatte, und sie wußten nicht, daß ich wenige Augenblicke vor meinem Sieg noch keineswegs sicher war, daß ich nicht verlieren würde. Siehst du, und ganz ähnlich steht es jetzt im Falle des Geheimnisses der Abtei: Ich habe inzwischen viele schöne Hypothesen, aber bisher noch kein evidentes Faktum, das mir zu sagen gestattet, welche die richtige ist. Und damit ich nicht hinterher dumm dastehe, verzichte ich lieber jetzt darauf, als klug zu erscheinen. Laß mir noch etwas Zeit zum Nachdenken, bis morgen wenigstens.«
Mit einem Male begriff ich die Denkweise meines Meisters, und sie schien mir recht unähnlich der eines Philosophen, der von ehernen Grundprinzipien ausgeht, so daß sein Verstand gleichsam die Vorgehensweise der göttlichen Ratio übernimmt. Ich begriff, daß William, wenn er keine Antwort hatte, sich viele verschiedene Antworten vorstellte. Und das verblüffte mich sehr.
»Aber dann«, wagte ich zu bemerken, »seid Ihr noch weit von der Lösung entfernt …«
»Wir sind ihr bereits ganz nahe«, entgegnete William heiter, »ich weiß nur noch nicht, welcher.«
»Demnach habt Ihr nicht eine einzige Antwort auf alle Fragen?«
»Lieber Adson, wenn ich eine hätte, würde ich in Paris Theologie lehren.«
»Und in Paris haben sie immer die richtige Antwort?«
»Nie«, sagte er fröhlich, »aber sie glauben sehr fest an ihre Irrtümer.«
»Und Ihr«, bohrte ich weiter mit kindischer Impertinenz, »Ihr begeht nie Irrtümer?«
»Oft«, strahlte er mich an, »aber statt immer nur ein und denselben zu konzipieren, stelle ich mir lieber viele vor und werde so der Sklave von keinem.«
Ich hatte allmählich den Eindruck, daß William überhaupt nicht ernsthaft an der Wahrheit interessiert war, die bekanntlich nichts anderes ist als die Adaequatio zwischen den Dingen und dem Intellekt. Statt dessen amüsierte er sich damit, so viele Wahrheiten wie möglich zu ersinnen!
In diesem Moment, ich gestehe es, verzweifelte ich an meinem Meister und ertappte mich unwillkürlich bei dem Gedanken: »Gar nicht so schlecht, daß die Inquisition gekommen ist!« Jawohl, ich ergriff Partei für den Wahrheitsdurst, der einen Mann wie Bernard Gui erfüllte.
In solch unguter Geistesverfassung, voller Schuldgefühle und verwirrter als Judas in der Nacht von
Gethsemane, betrat ich mit William das Refektorium, wo das Abendmahl unser harrte.
KOMPLET
Worin Salvatore von einem wundertätigen Zauber spricht.
Es war ein erlesenes Mahl, das man für die hohen Gäste bereitet hatte. Der Abt kannte offensichtlich die Schwächen der Menschen ebensogut wie die Sitten am päpstlichen Hofe (die übrigens, ich muß es sagen, auch den Minderen Brüdern des Michael von Cesena durchaus nicht mißfielen). Vor kurzem waren Schweine geschlachtet worden, und so hätte es eigentlich frische Blutwurst nach Montecassiner Art geben sollen, erklärte der Küchenmeister, doch nach dem schrecklichen Ende des armen Venantius habe man leider das ganze Blut wegschütten müssen und bisher noch keine Zeit gefunden, andere Schweine zu schlachten. In Wahrheit, glaube ich, widerstand es in jenen Tagen wohl allen, irgendwelche Geschöpfe des Herrn zu töten … Indessen gab es gebratene Täubchen, durchtränkt mit dem Wein der Gegend, und gespickten Hasenrücken, dazu Santa-Clara-Brötchen und Reis mit Mandeln, wie man ihn am Vorabend der Fastentage zu essen pflegt, ferner Röstbrot mit Borretsch, gefüllte Oliven, überbackenen Käse, Schaffleisch mit scharfer Paprikasoße, weiße Bohnen, anschließend köstliche Süßspeisen, Sankt-Bernhard-Kuchen, Sankt-Niklaus-Plätzchen, Santa-Lucia-Äuglein, und Weine und Kräuterliköre, die selbst den gestrengen Bernard Gui in heitere Stimmung versetzten: Zitronellenlikör, Nußlikör, Süßwein gegen die Gicht und Enzianwein. Ein wahres Schlemmergelage, hätte man meinen können, wären nicht jeder Schluck und jeder Happen von frommer Lesung begleitet gewesen.
Am Ende erhoben sich alle höchst zufrieden und satt. Nur einige klagten über gewisse Beschwerden, um nicht in die Kirche gehen zu müssen. Doch der Abt sah gnädig darüber hinweg. Nicht jeder hat schließlich die Privilegien und Pflichten, die sich aus dem Beitritt zu unserem Orden ergeben.
Während die Mönche sich zur Komplet in den Chor begaben, warf ich zufällig einen Blick in die Küche, die gerade für die nächtliche Schließung aufgeräumt wurde,
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