Der Name der Rose
sollte, aber was soll der Fürst dann mit dem Häretiker machen? Ihn verurteilen im Namen einer Wahrheit, zu deren Hüter er nicht bestellt worden ist? Der Fürst kann und muß den Ketzer verurteilen, wenn dessen Handeln der Allgemeinheit schadet, das heißt wenn der Ketzer sein Ketzertum dadurch ausdrückt, daß er die Andersgläubigen tötet oder behindert. Aber hier endet auch schon die Macht des Fürsten, denn niemand auf dieser Welt kann durch Strafen gezwungen werden, die Vorschriften des Evangeliums zu befolgen – was würde sonst aus dem freien Willen, nach dessen Ausübung jeder von uns in der anderen Welt dereinst beurteilt werden wird? Die Kirche kann und muß dem Ketzer klarmachen, daß er die Gemeinschaft der Gläubigen verläßt, aber richten auf Erden und wider seinen Willen zwingen darf sie ihn nicht. Hätte Christus gewollt, daß seine Priester eine Zwangsgewalt ausüben sollten, so hätte er diesbezüglich präzise Vorschriften erlassen, so wie es Moses getan im alten Gesetz. Er tat aber nichts dergleichen, also wollte er nicht. Oder meint etwa jemand, er habe es zwar gewollt, aber in den drei Jahren seines Predigerdaseins keine Zeit dazu gefunden? Nein, er wollte es nicht, und das war wohlgetan, denn hätte er es gewollt, so hätte der Papst seinen Willen den Königen aufzwingen können, und das Christentum wäre nicht mehr Gesetz der Freiheit, sondern unerträgliche Sklaverei.
All dies, sagte William schließlich mit heiterer Miene, bedeute keineswegs eine Beschränkung der Macht des obersten Pontifex, sondern im Gegenteil eine Erhöhung seiner Mission; sei er doch als Diener der Diener Gottes nicht auf Erden, um bedient zu werden, sondern um zu dienen! Außerdem wäre es doch, gelinde gesagt, recht sonderbar, wenn der Papst zwar Jurisdiktion über die Angelegenheiten des Kaiserreichs hätte, nicht aber über die Angelegenheiten der übrigen Reiche auf Erden. Bekanntlich gilt, was der Papst über die Angelegenheiten des himmlischen Reiches sagt, sowohl für die Untertanen des Königs von Frankreich wie für die Untertanen des Königs von England. Aber es muß auch Geltung haben für die Untertanen des Großkhans oder des Sultans der Ungläubigen, die eben darum Ungläubige genannt werden, weil sie diese schöne Wahrheit nicht glauben. Wenn also der Papst – in seiner Eigenschaft als Papst – weltliche Jurisdiktion über die Angelegenheiten des Kaiserreiches beanspruchen würde, so könnte doch leicht der Verdacht entstehen, daß der Heilige Vater gerade durch diese seine Gleichsetzung der weltlichen mit der geistlichen Jurisdiktion am Ende nicht nur keine geistliche Jurisdiktion über die Tataren und Sarazenen hätte, sondern auch keine mehr über die Engländer und die Franzosen! Gewiß ein sehr lästerlicher Verdacht … Aus diesem Grunde, folgerte William, scheine ihm die Vermutung richtig, daß die Kirche von Avignon Unrecht täte gegenüber der ganzen Menschheit, wenn sie behaupten wollte, es käme ihr zu, die Wahl des römischen Kaisers zu billigen oder für ungültig zu erklären. Der Papst habe im Hinblick auf das Kaiserreich keine größeren Rechte als im Hinblick auf die anderen Reiche der Welt, und da weder der König von Frankreich noch der Sultan einer päpstlichen Approbation unterliegen, sei nicht einzusehen, warum ausgerechnet der Kaiser der Deutschen und Italiener ihr unterliegen sollte. Eine solche Abhängigkeit des Kaisers vom päpstlichen Segen ergebe sich weder aus göttlichem Recht, sonst hätten die Schriften davon gesprochen, noch aus dem Recht der Völker, kraft obengenannter Gründe. Was schließlich den Bezug zur Armutsfrage betreffe, sagte William zum Abschluß, so führten die dargelegten Ansichten, die in Form bescheidener Denkanstöße von ihm und einigen anderen wie Marsilius von Padua und Johannes Jandun entwickelt worden seien, zu folgenden Konklusionen: Wenn die Franziskaner arm bleiben wollten, so könne und dürfe der Papst sich einem so frommen Wunsch nicht widersetzen. Freilich, wäre die Hypothese der Armut Christi beweisbar, so würde sie nicht nur den Minoriten helfen, sondern auch den Gedanken bestärken, daß Jesus keinerlei irdische Jurisdiktion für sich haben wollte. Doch wie kluge Männer heute morgen versicherten, sei die Armut Christi nicht beweisbar. Somit erscheine es vielleicht sinnvoller, die Beweisführung umzudrehen: Da niemand behauptet hat, noch hätte behaupten können, Jesus habe für sich oder seine Jünger eine weltliche
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