Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Name Des Windes

Der Name Des Windes

Titel: Der Name Des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
Vom Netzwerk:
das geben.« Ich zog einen eisernen Halbpenny hervor. »Ich wusste nicht, wie das hier abläuft, und deshalb habe ich nicht bezahlt.« Meine Stimme kam mir wie eingerostet vor. So viel hatte ich wahrscheinlich den ganzen Monat noch nicht gesprochen.
    Er betrachtete mich aufmerksam. »Es gibt hier zwei Regeln«, sagte er und zählte sie an seinen knotigen Fingern ab. »Erstens: Niemand sagt etwas, während ich spreche. Zweitens: Gib eine kleine Münze – aber nur, wenn du sie entbehren kannst.«
    Er betrachtete den Halbpenny, der auf dem Tresen lag.
    Da ich nicht zugeben wollte, wie nötig ich ihn eigentlich hatte, wechselte ich schnell das Thema. »Kennt Ihr viele Geschichten?«
    Er lächelte, und das Netz der Falten auf seinem Gesicht wurde zu einem Teil dieses Lächelns. »Ich kenne nur eine einzige Geschichte. Aber oft entpuppen sich kleine Teile dieser Geschichte als eigene Geschichten.« Er trank einen Schluck Bier. »Die Geschichte wird überall rings um uns her weitergewoben. In den Werkstätten der Kealden wie jenseits der Stormwal im großen Sandmeer. In den niedrigen Steinhäusern der Adem, die erfüllt sind von stillem Gespräch. Und manchmal –« Er lächelte. »Manchmal wird die Geschichte auch in schäbigen Kaschemmen am Tarbeaner Hafen weitergewoben.« Seine leuchtenden Augen schauten tief in mich hinein, als wäre ich ein Buch, in dem er zu lesen verstand.
    »Jede gute Geschichte berührt die Wahrheit«, sagte ich und wiederholte damit etwas, das mein Vater oft gesagt hatte. Es war ein seltsames Gefühl, wieder mit jemandem zu sprechen, seltsam, aber schön. »Und so wohl auch diese. Es ist wirklich schade, die Welt könnte ein bisschen weniger Wahrheit gebrauchen und ein bisschen mehr …« Ich verstummte, wusste nicht, wovon ich gern mehr gehabt hätte. Ich sah auf meine Hände hinab und wünschte, sie wären sauberer gewesen.
    Er schob mir den Halbpenny hin. Als ich die Münze nahm, lächelte er. Seine grobe Hand berührte mich sacht wie ein Vogel an der Schulter. »Jeden Tag, außer Mourning. So um die sechste Stunde.«
    Ich wandte mich zum Gehen, hielt dann noch einmal inne. »Ist sie wahr? Die Geschichte.« Ich machte eine vage Geste. »Der Teil der Geschichte, den Ihr heute erzählt habt?«
    »Alle Geschichten sind wahr«, sagte Skarpi. »Aber diese hat sich auch wirklich so zugetragen – wenn es das ist, was du meinst.« Er trank noch einen Schluck, lächelte dann wieder, und seine Augen funkelten. »Mehr oder weniger. Man muss schon auch ein klein wenig ein Lügner sein, um eine Geschichte richtig erzählen zu können. Ein Übermaß an Wahrheit bringt die Tatsachen durcheinander. Und zu viel Ehrlichkeit lässt einen unaufrichtig erscheinen.«
    »Das hat mein Vater auch immer gesagt.« Als ich meinen Vater erwähnte, brandete ein Sturm von Gefühlen in mir auf. Erst als ich sah, dass Skarpi mir nachblickte, merkte ich, dass ich ängstlich zum Ausgang zurückwich. »Ich komme wieder, wenn ich kann.«
    Seiner Stimme war das Lächeln anzuhören. »Ich weiß.«

Kapitel 27
    Sein unverschleierter Blick

    I ch verließ die Kneipe mit einem Lächeln auf den Lippen und dachte gar nicht daran, dass ich mich immer noch in Dockside befand und also in Gefahr war. Ich war bester Laune im Bewusstsein, dass ich bald die Gelegenheit haben würde, eine weitere Geschichte zu hören. Es war lange her, dass ich mich auf irgendetwas gefreut hatte. Ich ging zurück zu meiner angestammten Straßenecke, vergeudete drei Stunden mit Betteln und nahm ein einziges Scherflein dabei ein. Doch nicht einmal das konnte meine Hochstimmung dämpfen. Der nächste Tag war ein Mourning, aber am übernächsten würde es wieder Geschichten geben!
    Doch als ich dort saß, beschlich mich ein vages Unbehagen. Das Gefühl, dass ich etwas vergessen hatte, drang in meine rare Fröhlichkeit. Ich versuchte es zu ignorieren, aber es wich den ganzen Tag nicht von mir und war auch am nächsten noch da, wie eine Mücke, die mich plagte, die ich aber nicht sehen, geschweige denn totschlagen konnte. Als der Tag zu Ende ging, war ich mir sicher, dass ich etwas vergessen hatte. Etwas, das mit der Geschichte zusammenhing, die Skarpi erzählt hatte.
    Für euch, die ihr die Geschichte so wohlgeordnet erzählt bekommt, liegt es sicherlich auf der Hand, worum es geht. Aber denkt bitte daran, dass ich damals schon seit drei Jahren in Tarbean fast wie ein Tier lebte. Einige Bereiche meines Bewusstseins schliefen immer noch, und meine schmerzlichen

Weitere Kostenlose Bücher