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Der Name Des Windes

Der Name Des Windes

Titel: Der Name Des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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auf die Ruinen von Myr Tariniel. Er stand gebeugt, als ruhe eine schwere Last auf ihm. Und als er dann sprach, klang seine Stimme müde. »Hat man mich für einen guten Mann gehalten, Selitos?«
    »Man hielt dich für einen unserer Besten. Man glaubte, du seiest über jeden Tadel erhaben.«
    »Und dennoch habe ich das hier getan.«
    Selitos brachte es nicht mehr über sich, auf seine in Trümmern liegende Stadt hinabzusehen. »Und dennoch hast du das hier getan«, sagte auch er. »Warum?«
    Lanre schwieg einen Moment lang. Dann: »Meine Frau ist tot.« Er schluckte und sah hinaus über das Land.
    Selitos folgte seinem Blick. Von ihrem Aussichtspunkt aus sah er drunten dunkle Rauchwolken aufsteigen. Selitos erkannte zu seinem Entsetzen, dass Myr Tariniel nicht die einzige Stadt war, die zerstört worden war. Lanres Bundesgenossen hatten die letzten Bastionen des Reichs in Schutt und Asche gelegt.
    Lanre wandte sich an ihn. »Und mich hielt man für einen der Besten.« Lanres Gesicht bot einen schrecklichen Anblick. Es war von Gram und Verzweiflung zerfurcht. »Ich, den man für klug und tugendhaft hielt, habe all das getan!« Er gestikulierte wild. »Nun stell dir einmal vor, welche Ruchlosigkeiten geringere Männer in ihrem Herzen hegen mögen.« Lanre sah wieder nach Myr Tariniel hinüber, und eine Art Frieden kam über ihn. »Für die ist es wenigstens vorüber. Die sind nun in Sicherheit. Geschützt vor den unzähligen Übeln des Alltags. Geschützt vor all dem Kummer eines ungerechten Schicksals.«
    Selitos sagte leise: »Geschützt vor Freude und Erstaunen …«
    »Es gibt keine Freude!«, schrie Lanre mit schrecklicher Stimme. Ihr Ton ließ Felsen zerschmettern.
    »Jede Freude, die hier aufkeimt, wird schnell von Unkraut erstickt. Ich bin nicht irgendein Ungeheuer, das aus krankhaftem Vergnügen zerstört. Ich säe Salz, weil hier nur die Wahl zwischen dem Unkraut und dem Nichts besteht.« Selitos sah hinter seinen Augen nur Leere.
    Selitos bückte sich und hob einen Quarzklumpen auf, der an einer Seite eine Spitze hatte.
    »Wirst du mich jetzt mit einem Stein erschlagen?« Lanre lachte freudlos. »Ich wollte erreichen, dass du es verstehst, dass du weißt, dass es nicht Wahnsinn war, was mich dazu gebracht hat.«
    »Du bist nicht wahnsinnig«, antwortete Selitos. »Ich kann keinen Wahnsinn in dir entdecken.«
    »Ich hatte gehofft, dass du dich mir in meinem Bestreben anschließt.« In Lanres Stimme lag ein verzweifeltes Verlangen. »DieseWelt gleicht einem tödlich verwundeten Freund. Eine bittere Arznei, schnell verabreicht, lindert lediglich den Schmerz.«
    »Die Welt vernichten?«, sagte Selitos leise, wie im Selbstgespräch. »Du bist nicht wahnsinnig, Lanre. Was dich gefangen hält, ist etwas Schlimmeres als Wahnsinn.« Er betastete die scharfe Spitze des Quarzklumpens in seiner Hand.
    »Wirst du mich töten, um mich zu heilen, alter Freund?«, lachte Lanre. Dann blickte er Selitos plötzlich mit verzweifelter Hoffnung an. »Könntest du es?«, fragte er. »Könntest du mich töten, alter Freund?«
    Selitos sah seinen Freund an, sein Blick nun unverschleiert. Er sah, dass Lanre, fast wahnsinnig vor Trauer, versucht hatte, die Macht zu erlangen, Lyra wieder zum Leben zu erwecken. Aus Liebe zu Lyra hatte Lanre Wissen erlangt, das niemand erlangen sollte, und das zu einem schrecklichen Preis.
    Doch nicht einmal mit der ganzen Fülle seiner unter großen Mühen errungenen Macht gelang es ihm, Lyra wiederzuerwecken. Ohne Lyra war ihm das Leben nur noch eine Last. Um der Verzweiflung und den Qualen zu entrinnen, hatte Lanre sich schließlich das Leben genommen. Er hatte zur letzten Zuflucht eines jeden Menschen gegriffen und versucht, ins Jenseits zu entfliehen.
    Doch wie Lyras Liebe ihn damals aus dem Jenseits zurückgeholt hatte, erzwang diesmal Lanres Macht seine Rückkehr aus dem seligen Vergessen. Seine neu gewonnene Macht zwang ihn zurück in seinen Leib, zwang ihn weiterzuleben.
    Selitos sah Lanre an und verstand das alles. Vor seinem machtvollen Blick hingen all diese Dinge wie dunkle Teppiche in der Luft.
    »Ich könnte dich töten«, sagte Selitos und wandte den Blick ab, als Lanre Hoffnung zu schöpfen schien. »Für eine Stunde oder einen Tag. Aber du würdest wiederkehren, wie ein Stück Eisen, das von einem Magnetstein angezogen wird. In deinem Namen lodert die Macht, die du erlangt hast. Und die könnte ich ebenso wenig löschen, wie ich den Mond mit einem Steinwurf vom Himmel holen

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