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Der Name Des Windes

Der Name Des Windes

Titel: Der Name Des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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Erinnerungen hatten in einem dunklen Winkel meines Geistes Staub angesetzt. Ich hatte mich daran gewöhnt, sie zu meiden, so wie man es vermeidet, ein verletztes Bein zu belasten.
    Am nächsten Tag war mir das Glück hold: Es gelang mir, ein Bündel Lumpen von einem Wagen zu klauen und einem Lumpensammler für vier Eisenpennys zu verkaufen. Zu hungrig, um an die Zukunft zu denken, kaufte ich mir ein schönes Stück Käse und ein warmes Würstchen, einen ganzen Laib Brot und ein warmes Apfeltörtchen. Aus einer Laune heraus ging ich schließlich zum Hintereingang eines nahe gelegenen Wirtshauses und investierte meinen letzten Penny in einen Krug Starkbier.
    Ich setzte mich auf die Treppe der Bäckerei gegenüber, sah den Passanten zu und genoss das beste Essen seit Monaten. Bald wurde es dunkel, und von dem Bier wurde mir angenehm schwummerig. Doch als ich mein Essen verdrückt hatte, kehrte das nagende Gefühl zurück, stärker als zuvor. Ich runzelte die Stirn, verärgert, dass mir irgendetwas einen so schönen Tag verdarb.
    Es war nun Nacht, und das Wirtshaus auf der anderen Straßenseite war hell erleuchtet. Einige Frauen drückten sich in der Nähe des Eingangs herum. Sie tuschelten miteinander und warfen den vorübergehenden Männern vielsagende Blicke zu.
    Ich trank mein Bier aus und wollte eben über die Straße gehen, um den Krug zurückzubringen, als ich sah, dass sich eine Fackel näherte. Ich blickte die Straße hinunter, erkannte das unverwechselbare Grau eines Tehlanerpriesters und beschloss abzuwarten, bis er vorübergegangen war. An einem Mourning angetrunken und nach einer frischen Diebestat hielt ich es für das Klügste, jedweden Umgang mit der Geistlichkeit zu meiden.
    Der Priester trug eine Kapuze, und da sich seine Fackel zwischen uns befand, konnte ich sein Gesicht nicht sehen. Er ging zu den Frauen, und ich hörte sie leise miteinander sprechen. Darauf hörte ich Münzgeklimper. Ich zog mich tiefer in den dunklen Hauseingang zurück.
    Der Tehlaner machte kehrt und ging in die Richtung fort, aus der er gekommen war. Ich verharrte reglos, damit er mich nicht bemerkte. Ich wollte nicht fortlaufen müssen, solange mir noch der Kopf schwirrte. Die Fackel befand sich nun nicht mehr zwischen uns. Als er in meine Richtung blickte, konnte ich sein Gesicht nicht erkennen und sah nur Schwärze unter seiner Kapuze.
    Er ging weiter, ohne mich überhaupt wahrzunehmen oder sich darum zu scheren. Ich blieb jedoch, wo ich war, unfähig, mich zu rühren. Der Anblick dieses Mannes mit der Kapuze auf dem Kopf, sein Gesicht, das in der Dunkelheit darunter verborgen war, hatte in meinem Geist eine Pforte aufgestoßen, und Erinnerungen sprudelten heraus. Ich erinnerte mich an einen Mann mit leerem Blick und einem Lächeln wie aus einem Alptraum, erinnerte mich an das Blut an seinem Schwert. Cinder, seine Stimme wie ein kalter Wind: »Ist das das Lagerfeuer deiner Eltern?«
    Aber nicht er war es, sondern der Mann hinter ihm. Der stille Mann, der am Feuer gesessen hatte. Der Mann, dessen Gesicht in Schatten gehüllt war. Haliax. Das war die halb verborgene Erinnerung gewesen, die mir nicht mehr aus dem Sinn ging, seit ich Skarpis Geschichte gehört hatte.
    Ich stieg hinauf in mein Dachversteck und hüllte mich in meine Decke. Bestandteile der Geschichte und meiner Erinnerungen fingen an, sich ineinander zu fügen. Ich begann mir unglaubliche Tatsachen einzugestehen. Es gab die Chandrian wirklich. Es gab Haliax wirklich. Wenn die Geschichte, die Skarpi erzählt hatte, stimmte, waren Lanre und Haliax ein und dieselbe Person. Die Chandrian hatten meine Eltern getötet, meine ganze Truppe. Warum?
    Auch andere Erinnerungen sprudelten an die Oberfläche meines Geistes. Ich sah den Mann mit den schwarzen Augen, Cinder, vor mir knien. Sein Gesicht ausdruckslos, seine Stimme scharf und kalt. »Die Eltern von irgendwem«, hatte er gesagt, »haben die falschen Lieder gesungen.«
    Sie hatten meine Eltern getötet, weil sie Geschichten über sie gesammelt hatten. Sie hatten meine ganze Truppe eines Liedes wegen abgeschlachtet. Ich saß die ganze Nacht über wach, und nichts anderes als diese Gedanken gingen mir immer wieder durch den Kopf. Und ganz allmählich wurde mir klar, dass es die Wahrheit war.
    Was tat ich dann? Schwor ich, dass ich sie finden und alle für das, was sie getan hatten, umbringen würde? Möglicherweise. Doch selbst wenn ich das tat, wusste ich doch im Grunde meines Herzens, dass es nicht durchführbar war.

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