Der Name dieses Buches ist ein Geheimnis
Woche bei ihren Großvätern war sie es gar nicht mehr gewöhnt, nach Hause zu gehen, sodass sie vergaß, den Alarmcode einzugeben. Erst als die Sirene zu schrillen begann, tippte sie rasch ihr Geburtsdatum in das Zahlenfeld neben der Tür. Die Vorhänge waren zugezogen und im Haus war es dunkel, und Kass, die sich wie ein Eindringling vorkam, beließ es dabei. Wenn die Nachbarn Licht im Haus sahen, würden sie unangenehme Fragen stellen. Eine Sekunde lang dachte sie an Max-Ernest. Mit einem Freund an der Seite hätte sie sich nicht so unbehaglich gefühlt. Aber sie verdrängte den Gedanken rasch wieder. Es war besser, auf eigene Faust zu handeln, redete sie sich ein. Denn genau das war es, was einen Überlebenskünstler ausmachte.
Die Leidenschaft ihrer Mutter für Reiseführer war Kass immer ein Rätsel geblieben, aber jetzt war sie froh darüber. Buch für Buch zog sie aus dem Regal hervor, bis sich neben ihr ein Berg auftürmte, und in allen ging es um Spas. Dann setzte sie sich auf den Fußboden und blätterte die Bücher nacheinander durch. Sie hatten Titel wie Spaaahh! oder Tauch ein! und viele bunte Bilder von Sonnenuntergängen und blubbernden Whirlpools und lächelnden, in Badetücher gehüllten Leuten, die eine Massage bekamen. Kass fand, dass ein Spa wie das andere aussah – eine Meinung, die ihre Mutter offensichtlich nicht teilte, denn sie hatte quer über die Seiten Bemerkungen geschrieben wie: »Sieht traumhaft aus!« oder »Sündhaft teuer!« oder »Wo ist der Strand?« Neben einem stand: »Eine Überraschung für Kass zu Weihnachten?« Rasch blätterte Kass weiter, um nicht der Versuchung zu erliegen, weiterzulesen.
Als sie den ganzen Stapel durchgearbeitet hatte, hatte sie das Gefühl, als wüsste sie nun über jedes einzelne Spa im Land Bescheid – jedes, bis auf die Mitternachtssonne. Sie machte sich daran, die Bücher einzeln ins Regal zurückzustellen, als ihr eine alte, zerfledderte Broschüre in die Hände fiel, die hinter die Buchreihen gerutscht war. Das Deckblatt fehlte und auf der ersten vergilbten Seite stand...was für ein Wort?
Das Wort, das Kassandras Aufmerksamkeit erregt hatte, war Sanatorium (ein Sanatorium war, wie sie nach wenigen Zeilen feststellte, eine Einrichtung für Leute, die Tuberkulose hatten oder geisteskrank waren). Der Text erwähnte auch ein Solari um (gläserne Räume, in denen Leute sonnenbadeten, damals, in den guten alten Zeiten, als die Mütter sich noch keine Gedanken um Hautkrebs machten), aber nirgendwo stand etwas von einem Sensorium.
Doch dann hatte sie Glück. Auf einer Seite stieß Kass endlich auf einen Hinweis. Dort stand:
Ah, wieder jung zu sein!
Es ist der älteste Wunsch der Menschheit. Der einzige, der nicht in Erfüllung geht. Die Schlacht, bei der kein Sieg möglich ist. Oder doch?
Mitternachtssonne Sensorium und Spa
macht diesen Traum wahr.
Vor über hundert Jahren von einem Team aus Ärzten und
Spiritualisten entwickelt, ist die Mitternachtssonne eines der
exklusivsten und geheimnisvollsten Wellness-Hotels
auf der ganzen Welt.
Wie das sagenumwobene Shangri-la gibt dieses zauberhafte Refugium auf Bergeshöhe immer wieder Anlass zu Spekulationen.
Manche behaupten, die Gäste der Mitternachtssonne baden in
geschmolzenem Gold. Andere sagen, sie trinken das Blut
neugeborener Affen. Wieder andere wittern dahinter Betrügereien
und behaupten, es sei nichts als Schwindel.
Wissenschaft? Medizin? Hexerei? Wer weiß...
Die Behandlungsmethoden sind wohlgehütete Geheimnisse.
Niemand spricht öffentlich über die Mitternachtssonne,
wenn er oder sie jemals wieder die Chance haben möchte,
dort aufgenommen zu werden.
Interessiert?
Wenn Sie nicht prominent sind oder königlichen Geblüts, ist es
nahezu unmöglich, einen Platz in dieser abgeschiedenen
Zufluchtsstätte zu bekommen. Aber für jene, die kühn genug sind,
es dennoch zu versuchen, hier die Telefonnummer: (XXX) XXX XXX.
Oder schreiben Sie an Xxxxxx Xxxxxx, Xxxxxx XX, XXXXX XXXXXXXX.
Kass steckte die Broschüre in ihren Rucksack und grübelte über das Gelesene nach. Wieso wollten so viele Erwachsene wieder jung sein, wo es doch so lange dauerte, bis man erwachsen wurde? Es war, als ginge man auf eine endlos lange Reise und wollte plötzlich umkehren, ohne das Auto zu wenden.
Andererseits hatte sie schon genügend Werbesendungen gesehen, sodass sie wusste, dass alte Menschen alles daransetzten, jünger auszusehen. Okay, vielleicht badeten sie nicht gerade in geschmolzenem Gold – das
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