Der Name dieses Buches ist ein Geheimnis
sollst es nachschlagen!)
***
Unterwegs bat Owen sie, die Privatsphäre anderer Gäste zu respektieren, denen sie vielleicht begegnen würde. »In der Mmitternachtssonne sprechen die Gäste nur bei den Mahlzeiten m-m-miteinander. Anordnung von M-madame M-mauvais.«
Sein Hinweis war unnötig, denn Kass sah ohnehin kaum Gäste, und wenn doch, dann nur aus der Ferne. Trotzdem bekam sie einen Eindruck von ihnen. Wie Dr. L und Madame Mauvais, wie alle an diesem Ort, waren die Gäste gebräunt, mit jugendlich straffer Haut und fantastischem Aussehen. Kass konnte sie vom ersten Augenblick an nicht leiden.
Oh, und da war noch etwas anderes: Alle trugen Handschuhe. Sogar der Mann, der im Pool seine Runden drehte.
»Hey, Owen«, sagte Kass, immer noch bemüht, blasiert (!) zu klingen. »Warum tragen alle Handschuhe? Welchen Zweck hat das?«
Aber Owen hörte sie nicht. Zumindest tat er so. Und sie hatte nicht den Mut, ihn ein zweites Mal zu fragen.
Ein anderes Geheimnis klärte sich allerdings rasch auf: Das Goldbad war nicht ein Bad aus geschmolzenem Gold, sondern nur ein Schlammbad, in dem kleine Goldplättchen schwammen wie in dem smaragdgrünen Elixier. Hast du schon mal sogenanntes Katzengold gesehen? Das findet man am Strand oder in einem Flussbett, wie du sicher weißt. Das Gold in dem Goldbad sah jedenfalls genauso aus.
Wo wir gerade dabei sind: Warst du schon mal in einem Schlammbad? Du würdest vermutlich enttäuscht sein. So wie Kass.
Sie hatte sich vorgestellt, dass ein Schlammbad weich und cremig und schokoladig war – wie ein Bad bei Willy Wonka von der Schokoladenfabrik. Stattdessen war der Schlamm nur schmierig. Er war klumpig und kratzig und voller kleiner Dinge, die man nicht genau bestimmen konnte und die sich an Stellen festsetzen, wo sie sich nicht festsetzen sollten. Schlimmer noch, ab und zu stieg eine große blubbernde Luftblase auf und verbreitete einen widerlichen Gestank. Als Kass endlich aus dem Bad stieg, war sie so froh, dass es ihr schon fast nichts mehr ausmachte, dass Owen schon auf sie wartete und sie erneut daran hinderte, sich auf die Suche nach Benjamin zu machen.
Er versicherte ihr, die nächsten Behandlungen seien keine so schmutzigen Angelegenheiten und in jedem Fall wesentlich angenehmer. Sie seien dazu gedacht, jeweils einen der fünf Sinne zu stimulieren.
»Kommt daher die Bezeichnung Sensorium?«
Owen nickte. »M-madame M-mauvais sagt, Ziel dabei ist es, den Sinnen ihre innere Harmonie zurückzugeben.«
»So wie bei der Synästhesie?«, platzte Kass heraus, bevor ihr dämmerte, dass sie sich damit womöglich verriet. (Denn, so frage ich dich, wie viele Kinder haben jemals etwas von Synästhesie gehört?)
Und tatsächlich, Owen blickte sie verwundert an.
Er führte sie in einen großen, luftigen Raum mit einem Kuppeldach aus Glas, in dem sich das Licht in bunt schillernden Farben spiegelte. Kass erinnerte sich an die Broschüre, die sie im Regal ihrer Mutter gefunden hatte, und kam zu dem Schluss, dass es sich hier um ein Solarium handelte. Diesmal stellte sie allerdings keine Fragen, denn sie wollte nicht noch mehr Verdacht auf sich lenken, als sie es ohnehin schon getan hatte. *
Stattdessen legte sie sich folgsam bäuchlings auf die gepolsterte Liege und steckte die Nase durch ein dafür vorgesehenes Loch. Über sich spürte sie die warme Sonne durch das Glas scheinen – auch wenn sie nicht mit Bestimmtheit sagen konnte, ob es die echte Sonne war oder nur die Mitternachtssonne oder beides zugleich. Ein leichter Windhauch bewegte die langen, feinen Seidentücher, die von der Decke hingen und als Sichtschutz dienten. Fast hatte Kass das Gefühl, irgendwo im Freien zu sein – allerdings nicht auf diesem Planeten.
Ein Dutzend weiß gekleidete Frauen umschwirrte sie. Sie schwebten herein und wieder hinaus, verschwanden hinter Seidenvorhängen, um wenig später mit Kristallen, Klang-spielen, Ölen und Tinkturen zurückzukehren. Sie huschten umher und setzten Aromen frei (Kass, die mit der Symphonie der Düfte herumexperimentiert hatte, erkannte Pinie, Orangenblüte, Lavendel und sogar den Shiitake-Pilz). Dann gingen sie im Kreis herum und schlugen kleine Gongs und Stimmgabeln. (Jemand sagte, bei den merkwürdigen Klängen handele es sich um »Akupunktur ohne Nadeln«. Tatsächlich verspürte Kass ein Prickeln auf der Haut, aber sie war sich nicht sicher, ob diese Schwingungen nicht eher von ihrer Angst herrührten.)
Nach dem Riechen kam die Berührung.
Mit
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