Der Name dieses Buches ist ein Geheimnis
als gäbe es ganz viele davon. Eine schmale, mit goldfarbener Seide überzogene Couch ohne Rückenlehne – Kassandras Großväter hätten Diwan dazu gesagt und auf den napoleonischen Stil hingewiesen – sowie ein zierlicher silberverzierter Schreibtisch vervollständigten das Bild.
Kass begriff sofort, wo sie war: in den Privaträumen von Madame Mauvais. Sie waren kalt und von einer täuschenden Pracht, so wie die Frau selbst. Man konnte sich gut vorstellen, wie sie hier stundenlang saß und sich betrachtete, zuerst in dem einen Spiegel, dann in dem anderen und dann im nächsten...
Unsere junge Heldin hatte indes keine Zeit zu vertrödeln. Leise schlich sie weiter. Sie suchte den Marmorfußboden nach verräterischen Ritzen oder Fugen ab – falls eine Falltür eingelassen worden war –, als sie plötzlich gegen einen Spiegel stieß. Überrascht betrachtete sie ihre vielen Abbilder, und je mehr ihre Ohren sich in den zahllosen Spiegeln vervielfältigten, desto größer schienen sie zu werden.
»Suchen Sie mich, Miss Skelton?«
Kass lief ein inzwischen vertrauter Kälteschauer über den Rücken, als Madame Mauvais’ Spiegelbild, besser gesagt, Spiegelbilder neben ihr auftauchten.
Man hatte sie also ertappt. Was sollte sie jetzt tun? Was konnte sie tun?
Langsam drehte Kass sich um. Halb hatte sie gehofft, dass da niemand im Raum war – dass sich die blonde Barbiefrau im Spiegel als bloße Illusion entpuppte. Aber sie war leider nur allzu echt – und so falsch wie immer.
»Ich bin Madame Mauvais. Verzeihen Sie mir, dass ich mich nicht schon früher vorgestellt habe. Ich hoffe, die Mitternachtssonne entspricht Ihren Erwartungen.«
Kass verzog das Gesicht, ihr Herz hämmerte. Sie wollte etwas sagen, irgendetwas – aber sie brachte keinen Ton heraus.
»Mir ist aufgefallen, wie Sie sich soeben im Spiegel betrachtet haben«, fuhr Madame Mauvais fort. »Selbstverständlich bieten wir unseren Gästen auch Schönheitskorrekturen an, aber wir hielten Sie eher für den natürlichen Typ. Hm, mal sehen...«
Mit ihrer behandschuhten Hand hob sie Kassandras Kinn und betrachtete ihr Gesicht von allen Seiten. »Wenn Sie wünschen, können wir etwas dagegen tun.«
»Wogegen?«, fragte Kass, die endlich ihre Sprache wiedergefunden hatte.
»Ihre Ohren. Wir können sie richten.«
»Meine Ohren?«, wiederholte Kass. Wenn sie über ihre Ohren sprachen, dachte sie bei sich, würde Madame Mauvais vielleicht nicht fragen, was sie in ihrem Privatraum zu suchen hatte.
»Ja, ich dachte, sie missfielen Ihnen. In der Tat stehen sie ein wenig ab...«
»Was meinen Sie damit? Wie könnte man sie richten?«, fragte Kass und versuchte vergeblich, sich Madame Mauvais’ Griff zu entziehen.
»Neben den vielen anderen Talenten, die Dr. L besitzt, ist er auch noch ein begnadeter Schönheitschirurg.«
»Heißt das, Sie wollen operieren?«, rief Kass entsetzt aus. Sie dachte erst zu spät daran, dass eine Skelton-Schwester diesem Thema sicher aufgeschlossener gegenüberstand.
»Selbst das kunstvollste Make-up hat eben seine Grenzen«, stellte Madame Mauvais fest und ließ endlich Kassandras Kopf los. »Keine Sorge, er hat ein äußerst geschicktes Händchen. Bei ihm bleiben niemals Narben zurück. Er ist ein Künstler . . . Hier, was halten Sie von meinen?«
Sie raffte ihr blondes Haar und beugte den Nacken, damit Kass ihre Ohren betrachten konnte.
»Jedes Jahr arbeitet er daran. Sie sind wie Skulpturen, die noch nicht vollendet sind. Er sagt, er wird erst dann zufrieden sein, wenn ich die vollkommensten Ohren der Welt habe.«
Aus der Art und Weise, wie sie das sagte, schloss Kass, dass Madame Mauvais ihre Ohren auch jetzt schon sehr gelungen fand. Tatsächlich konnte sich Kass nicht erinnern, schon einmal perfektere Ohren gesehen zu haben.
»Überlegen Sie doch nur, was er mit einem hübschen jungen Mädchen, wie Sie es sind, alles anstellen könnte.«
Sollte sie sich ihre Ohren wirklich richten lassen? Bisher hatte Kass nie einen Gedanken daran verschwendet. Aber die Vorstellung, nie wieder gehänselt zu werden, war reizvoll. Und wenn man Madame Mauvais Glauben schenkte, war es nur eine Kleinigkeit.
»Ihre Mutter hat nicht solche Ohren, stimmt’s? Möchten Sie nicht ein bisschen mehr wie sie aussehen?«
»Wie kommen Sie darauf? Sie haben sie doch noch nie gesehen – oder?«, fragte Kass, die einen Augenblick lang im Zweifel war, ob sie gerade über die Mutter der Skelton-Schwestern sprachen oder über ihre eigene.
»Nein,
Weitere Kostenlose Bücher