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Der Narr und der Tod

Der Narr und der Tod

Titel: Der Narr und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlaine Harris
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wohl gedacht haben mochte, als er das Auto so nah am Haus hörte? Sicherlich dachte er, dass Hilfe schneller kam als erwartet. Wahrscheinlich war er stolz auf mich gewesen ... aber man hatte mich hereingelegt, ich hatte keine Hilfe holen können.
    Scham brach wie eine dunkle Flut über mir herein.
    Dem Schamgefühl folgte Zorn, der so überwältigend war, dass ich Mühe hatte, die vor mir liegende Straße zu erkennen. Ich verlor selten die Beherrschung, aber dieser Wutanfall war Lichtjahre von einem simplen Durchbrennen der Sicherungen entfernt. Ich wusste, wie schlecht es Martin ging, obwohl ich das bislang erfolgreich ausgeblendet hatte. Ich wusste, wie dringend er einen Arzt brauchte.
    Aber diese Frau hinderte mich daran, Hilfe für Martin und Karl zu holen. Ich erinnerte mich an Rorys leeren Blick und die rote Pfütze unter seinem Kopf – für ihn kam jede Hilfe zu spät. Ich trauerte nicht um ihn. In mir war ohnehin keine Trauer, nur Wut und ein Gefühl der Bedrängnis, und beides kämpfte in dem begrenzten emotionalen Raum, der mir zur Verfügung stand, um die Oberhand.
    Ich zog an meinem linken Ohr, was Margaret nicht mitbekam, da sie ja rechts neben mir saß. Mein Ohrring glitt aus dem Loch. Der Stecker rollte meinen Kragen herunter und rutschte mir in die Bluse, während der Ohrring selbst, nur ein kleiner, goldener Knoten, in den tiefen Spalt zwischen Lehne und Sitz glitt, wo ihn ein Polizist finden und Margaret Granberry hinter Schloss und Riegel bringen würde, so hoffte ich.
    Aurora war hier gewesen.
    So unauffällig wie möglich hinterließ ich überall Fingerabdrücke; am Lenker, an der Lenksäule, am Hebel, mit dem man den Sitz einstellte, am Fenster. Möglicherweise würde Margaret wenigstens einen von ihnen nicht erwischen, wenn sie den Pick-up säuberte. Vielleicht hatte ich zu viele Filme und zu viele Episoden von „Aktenzeichen XY“ gesehen, aber ich tat, was ich so ganz auf mich allein gestellt tun konnte.
    Bei der Auffahrt der Granberrys angekommen befahl mir Margaret, dort einzubiegen, und ich sah das Haus der beiden zum ersten Mal. Es war ein altes Bauernhaus, glänzend weiß mit grünen Fensterläden und einem Whirlpool im Wintergarten an der Westseite. Es war verschiedentlich erweitert worden und passte zu dem, was Cindy mir erzählt hatte: Landleben in Luxusausführung.
    Als wir leicht rutschend hielten, rannte Luke aus dem Haus, sein Gesicht war verzerrt vor Sorge. Er hielt ein Gewehr.
    „Was ist los?“, schrie er.
    „Schau doch, Schatz!“ Margaret hielt das Kind hoch, damit er es sehen konnte.
    Lukes Gesicht erstarrte zur Maske.
    „Was hast du getan?“
    „Keine Sorge! Sie wollte in die Stadt, in Karls Pick-up. Der stand vorhin wohl im Wäldchen“, erklärte sie. „Aber sie hatte das Kind dabei, und ich dachte, das könnte unsere letzte Chance sein.“
    „Aber ...“
    „Liebster, sie sagt, du hättest auch Karl getroffen“, unterbrach ihn Margaret.
    „Ich habe nur einmal geschossen“, widersprach er.
    „Die Kugel ging durch Rory hindurch“, teilte ich den beiden Irren mit. Ein Wunder, dass ich trotz meiner Wut noch sprechen konnte.
    „Rory ist tot.“ Die Erleichterung war Margaret deutlich anzuhören. „Darüber müssen wir uns keine Sorgen mehr machen.“
    Auch Luke schien erleichtert. Seine Schultern sackten herab. „Dann wollen wir mal reingehen“, meinte er fröhlich.
    „Endlich kann ich Lucas sein Kinderzimmer zeigen.“ Begeisterung schwang deutlich in Margarets Stimme mit.
    „Hayden“, korrigierte ich.
    „Nein! Das ist der abscheuliche Name, den sie ihm gegeben hat.“ Margaret rieb ihre Nase an Haydens Wange. „Er heißt Lucas.“
    Während sie sich völlig auf das Baby konzentrierte, riskierte ich einen Blick zu Luke, der ebenfalls nur Augen für das Kind hatte. Wäre er nicht bewaffnet gewesen, hätte ich mich ohne mit der Wimper zu zucken auf ihn gestürzt, denn mit meiner Wut im Bauch fühlte ich mich wie ein Preisboxer. Nichts hätte mich stoppen können, hätte ich nicht gewusst, dass ich ihn um etwas bitten musste.
    „Luke? Sie müssen einen Krankenwagen rufen und zu unserem Hof schicken“, sagte ich so vernunftbetont, wie ich nur konnte, wenn man bedachte, in welchem Zustand ich innerlich war.
    „Weshalb? Rory ist tot.“
    „Für ihn kann man nichts mehr tun, ich weiß.“ Wie schaffte ich es nur, so gelassen zu bleiben? „Aber Karl ist schwer verletzt, und Martin geht es nicht gut. Ich fürchte ... ich fürchte ... es geht ihm wirklich

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