Der Narr
dir sicher mehr über gestern Abend erzählen als ich.«
»Danke! Aber ist dieser Aufzug wirklich notwendig?«
»Narrenfreiheit. Wenn sie dich so sehen, verzeihen sie dir alles.«
Sam hatte Nimue von der Angst erzählt, sich blamiert zu haben. Sein Vorwand, sich nur für schlechtes Benehmen entschuldigen zu wollen, kam ihm selbst nicht stimmig vor. Nimue hatte aber, obwohl sie sonst stets misstrauisch zu sein schien, seine Motivation nicht hinterfragt. Allerdings folgte die Hexe ohnehin keinem logischen Muster. Sie würde jedes Pokerspiel spannend machen. Sie würde ein schlechtes Blatt behalten und gute Karten ablegen, wenn ihr ein Gefühl das einflüsterte. Von dem blutigen T-Shirt wusste sie noch nichts – und das sollte auch so bleiben.
Die elenden Selbstvorwürfe plagten ihn mehr und mehr. Warum warst du nur so dumm? Alle haben dir gesagt, dass diese Saufgelage mal schlimm enden werden. Je mehr er redete, desto weniger lief er Gefahr, nachzudenken und dabei durchzudrehen.
»Diese Keltentruppe geht also in antiker Gewandung zu einer Steinpyramide. Haben die eine Wette verloren?«
»Die Túatha Dé Danann sind eine keltische Brauchtumsgruppe, die traditionelle Lebensweisen erforscht.«
»Ich hab in der Schule gelernt, dass wir fast nichts über dieses Volk wissen.«
»Die Kelten waren die Hochkultur der Antike. Einem Galilei widersprach die Wissenschaft anfangs auch.« Sie blickte Sam von oben herab an und schüttelte verächtlich den Kopf. »Ich habe es nicht nötig, jemandem wie dir alles zu erklären. Die Kelten waren der heutigen Zeit in vielem voraus.«
Sam wusste, es wäre besser, einfach die Klappe zu halten, doch er konnte nicht anders. »Wenn sie so hochentwickelt waren, wieso sind sie dann untergegangen?«
»Die komplette Geschichte der Antike wurde von römischen und christlichen Chronisten verfälscht. Solange die Stammesgemeinschaften dem alten Glauben treu waren, herrschten sie über Europa. Es gibt Beweise.«
»Was ist mit Gegenbeweisen, die deinen Theorien widersprechen?«
Nimue sah Sam wieder verächtlich an und schwieg.
»Diese Keltentruppe macht dann sicher auch Rituale, oder? Was tun sie da? Springen sie etwa nackt übers Feuer?«
»Nur ein paar von ihnen haben auch die alte Religion angenommen und sind damit zu echten Heiden wie ich geworden.«
»Beim Teutates! Es gibt tatsächlich Leute, die heute noch zu den alten Göttern aus den Asterix-Comics beten?«
»Mehr als eine Million Menschen sind offiziell konfessionslos. Glaubst du wirklich, das sind alles Atheisten? Wir Heiden beten zu den alten Göttern und feiern die Jahreskreisfeste. Wir kennen mehrere Götter: Weibliche und Männliche. Cernunnos könnte dir zum Beispiel gefallen, der gehörnte Gott. Er steht für die Wildheit und die freie Natur.«
Sam erinnerte sich schemenhaft daran, wie sich sein Saufkumpan am Vortag eine Mütze mit Hörnern aufgesetzt hatte, als er ums Feuer tanzte. Allmählich verstand er Caellachs finsteren Blick, als Sam während dieser Vorführung im Vogeltanz um das Lagerfeuer gehopst war.
»Götter aus der Antike verehren? Das ist doch ein schlechter Scherz, oder?«
»Ihr Muggels versteht das nicht. Ihr haltet jeden, der nicht mit Scheuklappen durchs Leben geht und anders aussieht, für verrückt.«
»Aber um ausgeflippt sein zu können, braucht es doch weder merkwürdige Kleidung noch windige Zelte! Und schon gar keine Götter! Wenn du wüsstest, wie es bei uns im Karneval zugeht! Ich bin mir sicher, meine Freunde und ich haben mehr Spaß im Leben als diese ernst dreinblickenden Leute in ihren Fellen, die ich gestern kennengelernt habe.«
»Einmal im Jahr zu Karneval ausgelassen zu sein, bedeutet noch lange nicht, frei zu sein. Ihr seid doch alle gleich! Bürgerlicher Haarschnitt, bürgerliche Kleidung, bürgerlicher Lebensstil, vielleicht sogar auch klassisch bürgerlich verheiratet. Und dann auf konservative Menschen schimpfen, ohne zu merken wie konservativ man selbst ist. Mit eurem angepassten Aussehen unterstreicht ihr doch nur, Sklaven der Leistungsgesellschaft zu sein. Ich aber bin immer wild und frei. Nicht nur an manchen Wochenenden bei ausreichend Alkohol. Jeder andere Lebensstil wäre eine Verschwendung meiner Lebenszeit.«
Nimues Handy piepste. Sie verzog das Gesicht, als sie darauf blickte.
»Was ist?«
»Nur eine SMS von einem Freund«, knurrte sie. Es war nicht die erste Nachricht gewesen, die sie während der Fahrt erhalten hatte. Jedes Mal hatte sie geseufzt und sofort
Weitere Kostenlose Bücher