Der nasse Fisch
Leiche, die Kriminalkommissar Gereon Rath
selbst verbuddelt hatte! Na, herzlichen Glückwunsch!
Immer wieder, auch jetzt, hier in der Einsamkeit von Roeders winzigem Büro, drängte sich der Gedanke in seinen Kopf, das Ganze
könne eine Falle sein. Warum hatte Gennat ausgerechnet ihn zu diesem Toten geschickt? Lag das wirklich nur am Personalengpass
in der Inspektion A? Oder wussten alle längst Bescheid, waren eingeweiht und warteten nur darauf, dass er einen Fehler machte?
Aber wenn er genauer darüber nachdachte, kam er immer wieder zu demselben Schluss: Niemand konnte etwas wissen, er musste
sich lediglich beruhigen und seine paranoiden Attacken unter Kontrolle bringen.
Das Klingeln des Telefons riss ihn aus seinen Gedanken. Entweder war das Gennat, oder einer seiner Mitarbeiter meldete sich
von unterwegs. Sonst konnte noch niemand die neue Nummer haben. Missmutig griff er zum Hörer.
»Ja?«
»Guten Tag, Herr Kommissar! Herr Heinrich war so nett, mir Ihre Nummer zu geben. Michael Lingen vom Tageblatt hier. Ich habe ein paar Fragen, wenn es nichts ausmacht …«
Jetzt hatte er schon die Presse am Hals! Welcher Idiot hatte dem Zeitungsfritzen nur die Nummer gegeben?
Es gab keinen Grund, freundlich zu sein. »Und wenn es etwas ausmacht?«, raunzte Rath den Mann in der Leitung an. »Ich habe
zufällig gerade zu tun.«
»Entschuldigen Sie Herr, Kommissar, wenn ich Sie störe. Natürlich haben Sie noch Arbeit, die letzten Tage im Präsidium. Aber
ich dachte – schließlich ist es ja in Ihrem eigenen Interesse.«
Die letzten Tage im Präsidium ? Was sollte das jetzt? Wollte der Kerl ihn erpressen?
»Wie meinen Sie das?« Rath hatte innerlich die Fäuste hoch genommen.
»Ich meine das, wie ich es sage.« Der Journalist klang nicht so, als wolle er ihn hereinlegen, eher ein wenig beleidigt. »Schließlich«,
fuhr der Mann fort, »dürfte sich Ihr Buch eher besser als schlechter verkaufen, wenn wir es im Tageblatt besprechen, Herr Roeder!«
Rath musste nur kurz überlegen, dann hatte er die passende Antwort parat.
»Glauben Sie etwa, ein preußischer Beamter ist bestechlich«, fuhr er auf. Die künstliche Aufregung gelang ihm ganz gut. »Meinen
Sie, deshalb würde ich mit euch Schmierfinken auch nur ein Wort wechseln?«
Rath knallte den Hörer auf die Gabel. Im Tageblatt würde das neue Werk des Ex-Kollegen Roeder jetzt wohl nicht mehr allzu gut wegkommen.
Das Bild auf dem Schreibtisch holte ihn zurück in die Realität. Josef Wilczek schaute ihn so grimmig an, als werfe er ihm
seinen gewaltsamen Tod vor. Das Gesicht auf dem Foto kam ihm irgendwie bekannt vor. Es war besser zu erkennen als das verunstaltete
der Leiche, auch besser als das, das er in jener Nacht unter dem Schatten der Hutkrempe hatte sehen können.
Vielleicht war es auch der Schnurrbart, der den Unterschied machte. Jedenfalls hatte Rath das bestimmte Gefühl, als sei er
dem Mann auf dem Foto schon einmal begegnet. Vor dem tödlichen Zwischenfall. Doch ganz gleich, von welcher Seite er Wilczeks
Gesichtszüge studierte, ob frontal oder im Profil, es wollte ihm beim besten Willen nicht einfallen, wann und wo er ihm über
den Weg gelaufen sein könnte. Erst in Marlows Revier? Oder schon früher? Rath schob den Gedanken beiseite. Das brachte ihn
jetzt nicht weiter. Wahrscheinlich hatte er einfach zu oft von dem Toten geträumt.
Andere Dinge waren jetzt wichtiger. Rath wusste, dass er sooder so höllisch aufpassen musste. Er konnte sich keinen Fehler erlauben. Was in diesem Fall paradoxerweise hieß: möglichst
viele Fehler zu machen. Fehler, die eine Lösung des Falles unmöglich machten und den Ermittlungsleiter dennoch nicht schlecht
aussehen ließen. Wenn Rath diesen Fall nicht löste, musste er das auf eine intelligente Weise tun, auf eine plausible Weise
also, ohne dass jemand ihn deswegen für einen Stümper hielt oder schlimmer noch: Verdacht schöpfte und der Wahrheit auf die
Spur kam. Kein Vorgesetzter, und schon gar nicht einer seiner Kollegen.
Rath zuckte zusammen. Das Telefon klingelte schon wieder.
»Kommissar Rath, Kriminalpolizei«, meldete er sich diesmal, um Missverständnissen aus dem Weg zu gehen.
» Nibelungen-Verlag «, hörte er eine Frauenstimme, die keinen Widerspruch zu dulden schien. »Vorzimmer Doktor Hildebrandt, ich verbinde …«
Bevor Rath etwas sagen konnte, wurde er durchgestellt. Die Männerstimme am anderen Ende der Leitung hatte er noch nie zuvor
gehört.
»Na,
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