Der nasse Fisch
mein Lieber! Die letzten Tage noch fleißig? Ich sitze hier gerade über der letzten Korrekturfassung. Die Stelle, an der
Sie über die Verjudung des Polizeiapparats …«
Rath unterbrach ihn. »Herr Doktor Hildebrandt, nehme ich an?«
Schweigen am anderen Ende der Leitung. Der Verleger brauchte einige Zeit, ehe er sich gefasst hatte.
»Mit wem spreche ich bitte?«, fragte er nach einem Räuspern.
»Kriminalpolizei Berlin. Wenn Sie ein Verbrechen anzeigen wollen, sind Sie hier richtig. Ansonsten empfehle ich Ihnen eine
andere Verbindung …«
Dr. Hildebrandt hatte aufgelegt.
Rath ließ den Hörer sinken. Das Gesicht auf dem Schreibtisch seines Vorgängers schaute ihn an, als wolle es ihm sagen: Heh!
Vergiss Roeder! Beschäftige dich mit mir! Dies hier ist meine Akte!
Der heilige Josef.
Ausgerechnet einen Heiligen musste er verbuddeln!
Meist pflegte die Berliner Unterwelt ihre Mitglieder nach anderen herausragenden Eigenschaften zu titulieren, sodass die Schränker-Willis
und Messer-Edes dort weitaus häufiger zu finden waren als ausgerechnet Heilige. Doch Wilczek hätte es jedem Indianerstamm
in Sachen Namensgebung schwer gemacht. Eigentlich machte er alles, und nichts davon richtig. Worin seine eigentliche Spezialität
bestand, darüber gab die Akte jedenfalls keine eindeutige Auskunft, er schien sich in den Jahren nach dem Krieg in allen Fachgebieten
getummelt zu haben – vorausgesetzt, es war etwas Illegales. Und immer wieder hatte man ihn erwischt. Für Wilczeks Vorstrafenregister
schien das Wort Sammelsurium eigens erfunden worden zu sein. Die Liste fing an bei einfachen Diebstählen und reichte über
Einbruch, Meineid und Urkundenfälschung bis zur gefährlichen Körperverletzung. Alles in allem waren zwei Jahre Gefängnis und
fünf Jahre Zuchthaus zusammengekommen, das reichte wohl als Empfehlung für die Berolina .
Denn das war die eigentlich interessante Information, die Rath aus dieser Akte gezogen hatte: Josef Wilczek gehörte zum Ringverein
des roten Hugo, der wiederum Dr. M. hörig war – ein weiteres Indiz dafür, dass Johann Marlow ihm den Mann auf den Hals gehetzt
haben musste.
Offiziell hatte die Akte Wilczek zu anderen Schlussfolgerungen geführt: Sie suchten den Mörder jetzt in Verbrecherkreisen.
Nun musste erst einmal der Berolina auf den Zahn gefühlt werden. Die richtige Aufgabe für den Frischling. Rath hatte Jänicke umgehend ins Scheunenviertel geschickt,
in die Mulackritze , eine Verbrecherkaschemme, die als Lieblingsaufenthalt des roten Hugo galt. Johann Marlow, da war Rath beinahe sicher, hätte
sich in einem solchen Laden niemals blicken lassen. Da hätte er höchstens seinen chinesischen Leibwächter hineingeschickt,
damit der ihm den Chef der Berolina ins wartende Auto holte. Keine große Gefahr also, dass der Frischling Dr. M. in die Quere kam.
Eine falsche Spur, die vielversprechend aussah, was konnte er sich mehr wünschen? Natürlich noch, dass Czerwinski und Henning
möglichst wenig aus den Leuten in den Mietskasernen zwischen Koppestraße, Münchebergstraße und Schlesischem Bahnhof herausbekamen. Aber das war ohnehin zu erwarten. Die Leute in
diesem Viertel waren nicht besonders redselig. Schon gar nicht gegenüber der Polizei. Er hoffte, die beiden Experten aus der
Mordinspektion mit dem Abklappern der Wohnblöcke möglichst lange möglichst sinnlos zu beschäftigen. Damit sie nicht auf dumme
Gedanken kamen, eigene Überlegungen anstellten und Schlussfolgerungen zogen.
Die gesammelten Aussagen der Bauarbeiter ließ er Christel Temme gerade ins Reine schreiben. Aus dieser Ecke drohte vorerst
keine Gefahr. Schon die Vernehmung des Poliers hätte besser nicht laufen können. Lauffers Aussage machte eine genaue Eingrenzung
des Zeitpunkts, wann die Leiche in den Beton gesenkt worden sein konnte, so gut wie unmöglich. Die Arbeiter hatten sich noch
ungenauer ausgedrückt als ihr Chef. Nach diesen Aussagen kamen für den Tatzeitpunkt eher der Samstag oder der Sonntag in Betracht
als der Freitag. Und für beide Abende hatte Kriminalkommissar Gereon Rath – sollte es tatsächlich hart auf hart kommen – ein
absolut wasserdichtes Alibi, bezeugt von Polizeibeamten und einer Polizeistenotypistin. Er hoffte, davon nie Gebrauch machen
zu müssen, aber noch waren nicht alle Spuren beseitigt, die auf ihn hindeuteten.
Wieder klingelte das Telefon auf Roeders Schreibtisch.
»Ringverein Alexandria. Dienstleistungen aller Art.
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