Der nasse Fisch
ihn. »Ich kann mich nicht entsinnen, dass der Kriminalrat Ihnen den Auftrag gegeben hat, irgendetwas mit mir
zu besprechen.«
Rath unternahm keinen weiteren Versuch mehr. Wenn sie es so haben wollte! Kaltschnäuzig sein, das konnte er auch.
»Gut. Damit nicht die Gefahr entsteht, dass es zu vertraulich zwischen uns wird, schlage ich vor, dass wir uns für die Zeugenbefragungen
trennen. Sie übernehmen die eine Hälfte der Mietparteien, ich die andere.«
Er hatte sie tatsächlich gesiezt! Er hatte nicht das Gefühl, dass sie das traf. Das Siezen wurmte ihn mehr als sie.
»Wie Sie meinen, Herr Kommissar.«
»Dann nehmen Sie die oberen beiden Etagen, ich übernehme die drei unteren.«
Sie antwortete nicht mehr. Ihre schlanken Beine flogen die Treppe hoch.
Rath schaute ihr nach, zuckte die Achseln und machte sich an die Arbeit.
Er war schnell durch. Aus den Erdgeschosswohnungen konnte man nicht einmal über die Friedhofsmauer blicken, und auch sonst war niemandem etwas Ungewöhnliches aufgefallen, weder
dem Hauswart noch dem Lehrer, der in der gegenüberliegenden Wohnung lebte. Und in den Wohnungen oben war niemand zu Hause
außer Elfriede Gaede, einer schwerhörigen alten Dame, die im ersten Obergeschoss wohnte. Frau Gaede verfügte zwar über einen
Logenblick auf den Friedhof, hatte jedoch nur Augen für ihre zahlreichen Katzen, die in jedem Zimmer herumstrichen. Es dauerte
etwas, bis Rath begriffen hatte, dass Frau Gaede nicht nur schwerhörig war, sondern auch nahezu blind. Er war froh, als er
die nach Katzenpisse stinkende Wohnung wieder verlassen konnte. Erfolgreicher Einsatz!
Er ging die Treppen hinunter, trat auf die Straße und blickte sich um. Von Charly war noch nichts zu sehen. Links neben dem
Mietshaus, an der Ecke eines roten Backsteinbaus, standen Plisch und Plum, jeder eine Zigarette in der Hand. Rath stellte
sich zu ihnen und steckte sich eine Overstolz an. Die beiden liefen wenigstens nicht weg, wenn er sich näherte.
»Auch schon fertig?«, fragte er, nachdem er die Zigarettenschachtel wieder eingesteckt hatte.
»Ist ’ne Schule«, sagte Czerwinski, »in dem ganzen Riesengebäude wohnen nur der Hausmeister und seine Frau.« Er nahm einen
tiefen Zug. »Und die haben beide nichts gesehen.«
»Ist auch ’ne Schnapsidee, wenn ihr mich fragt«, meinte Henning. »Was sollen die Leute hier in der Straße schon mitbekommen
haben? Wer auch immer den Toten da ins Grab geworfen hat, der ist über den Friedhof gekommen. Viel zu auffällig, hier über
die Mauer zu kraxeln. Noch dazu mit einer Leiche. Außerdem muss es jemand gewesen sein, der das Friedhofspersonal kannte,
jemand, der wusste, dass hier und heute ein Polizist beerdigt werden sollte.«
»Das wusste die ganze Stadt, das stand in jeder Zeitung«, entgegnete Rath. »Und so viele frische Gräber wird’s heute Morgen
auf dem Georgenfriedhof nicht gegeben haben.«
»Seltsame Sache«, fing Henning wieder an. »Warum wirft jemand eine alte Leiche in ein frisches Polizistengrab?«
»Schon merkwürdig«, gab Rath zu.
Der Mörder hatte den toten Kardakow nicht ohne Grund auftauchen lassen, so viel stand fest. Vielleicht um dem Polizeipräsidenten
eins auszuwischen? Um Rath eins auszuwischen? Und war es überhaupt der Mörder selbst, oder hatte jemand anders die Leiche
in Jänickes Grab deponiert? Es wirkte fast wie zur Schau gestellt, das Kokain in der Jackentasche, der Personalausweis. Und
dann die Vereinsnadel der Berolina . Hatte Marlow seine Finger doch im Spiel? Wollte ihnen jemand damit sagen, dass Dr. M. oder der rote Hugo die beiden Russen
umgebracht hatten? Vielleicht ein verfeindeter Ringverein, der die Berolina in Schwierigkeiten bringen wollte? Und dabei gleich noch die Gelegenheit nutzte, die Polizei ein wenig vorzuführen? Die Nordpiraten waren zurzeit nicht gut auf die Berolina zu sprechen. Vielleicht konnte man dort einmal nachfühlen.
Die drei Männer hatten ihre Zigaretten zu Ende geraucht. Rath beschloss, mit Henning und Czerwinski zurück zum Friedhof zu
gehen. Auf Charly zu warten, um dann von ihr wie der letzte Dreck behandelt zu werden – das musste er sich nicht antun. Es
war nicht gerade nett, aber das war ihm egal.
Trotz ihrer Zigarettenpause gehörten die drei zu den Ersten, die sich wieder bei Gennat meldeten. Viel war noch nicht zusammengekommen.
Immerhin hatte ein Mann aus der Nummer 19 am Morgen zwei Männer beobachtet, die einen Karren über die Hauptallee des
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