Der nasse Fisch
drehte sich
auf die andere Seite.
»Ich mach Frühstück«, sagte sie und verließ das Zimmer. Gott sei Dank.
Er lag noch eine Weile im Bett und dachte nach. Elisabeth Behnke war fast zehn Jahre älter als er. Ihr Mann war 1917 an der
Aisne gefallen. Rath musste an die Frauen in der Garnisonsstadt denken. Damals im Sommer 1918, nach der Grundausbildung, als
sie auf den Einsatzbefehl an die Front warteten, als sie fühlten, dass möglicherweise die letzten Tage ihres jungen Lebens
angebrochen waren. Frisches Kanonenfutter, das an die Front geworfen werden sollte. Er erinnerte sich an den Rausch von damals.
Lebenslust, die sich aus Todesfurcht speiste. Schwitzende Körper, die sich in den Betten wälzten, beinah verzweifelt. Die
Frauen waren allesamt älter gewesen. Zehn Jahre und mehr. Und fast alle trugen Eheringe. Ihre Männer kämpften noch an der
Front oder waren gefallen.
Rath war gerade achtzehn geworden, als die Preußen ihn noch zogen. Der Stellungsbefehl war ihm vorgekommen wie ein Todesurteil.
Er hatte an Anno denken müssen, er wusste ja nicht, dasses das letzte Kriegsjahr war, er konnte nur beten, dass der Wahnsinn bald endete. Seine Mutter hatte geweint, als ihr Jüngster
in Uniform am Bahnhof stand und Abschied nahm. Sie wollte nicht noch einen Sohn verlieren. Der älteste war in den ersten Kriegstagen
gefallen. Anno, der Unfehlbare, das ewige Vorbild. Doch in einem wollte ihm sein kleiner Bruder nicht nacheifern: Gereon wollte
den Krieg überleben!
Mit diesem Willen und wenig Hoffnung war er in der Garnison angekommen. Das verzweifelte Warten. Sie hatten sich gefühlt wie
Häftlinge in der Todeszelle. Und dann war der Krieg mit einem Mal vorbei. Bevor der Marschbefehl kam, bevor er auch nur einen
einzigen Schuss auf den Feind hatte abgeben müssen. Die Nachricht von der Meuterei in Kiel hatte sich schnell zu ihnen herumgesprochen.
Soldatenräte wurden gebildet. Als ihm klar wurde, dass ihn niemand als Deserteur festnehmen würde, hatte er die Uniform einfach
ausgezogen und war nach Hause gefahren. Zurück nach Köln. Andere Kameraden hatten das Kriegspielen fortgesetzt und waren in
Freikorps durch die Lande gezogen, hatten gegen Kommunisten gekämpft und gegen die Revolution. Der Gefreite Gereon Rath aber
hatte auf seinen Vater gehört und war Polizist geworden. Sie hatten ihm wieder eine Waffe gegeben. Und den Schreibtisch, an
dem Anno Rath vor dem Krieg gesessen hatte.
Er verscheuchte die Erinnerungen und blickte aus dem Fenster. Draußen schien die Sonne, es sah nach dem ersten Frühlingstag
aus, der diesen Namen verdiente. Rath versuchte, wieder klare Gedanken in seinen verkaterten Kopf zu bekommen. Mit einem Ruck
stand er auf und ging ins Bad. Er brauchte dringend eine Dusche.
Erst die frische Luft hatte seinen Kater restlos verscheuchen können. Rath atmete tief durch und kramte den Zettel hervor,
den ihm die Behnke geschrieben hatte. Luisenufer. Die neue Adresse von Alexej Iwanowitsch Kardakow lag in Kreuzberg. Der Straßenname
hatte den Wandel der Zeiten überdauert. Vor wenigen Jahren noch floss hier der Luisenstädtische Kanal zwischen Urbanhafen
und Spree, nun spielten Kinder in der riesigen Sandfläche, die dieStadt über einem zugeschütteten Hafenbecken angelegt hatte. Ihr Lachen und Schreien erfüllte die klare Luft. Nach dem endlos
langen Winter schien der Frühling endlich kommen zu wollen. Den Berliner Winter hatte Rath gehasst, seit er an einem viel
zu kalten Märztag am Potsdamer Bahnhof aus dem Fernzug gestiegen war und ihn der Potsdamer Platz mit Schneegestöber und Verkehrschaos
empfangen hatte. Die Kälte hatte sich bis in den April hinein in den Straßen festgesetzt. Nun nahm die Stadt freundlichere
Züge an. Endlich. Den kurzen Fußmarsch vom Hochbahnhof Kottbusser Tor hatte Rath geradezu genossen.
Sein Blick wanderte die Hausfassaden entlang. Eine Kneipe, ein Friseursalon, eine Milchwirtschaft. Wegen der Hausnummer musste
er noch einmal auf den Zettel schauen.
Das Frühstück mit Elisabeth Behnke war weniger schlimm ausgefallen als befürchtet. Sie hatten sich nur über den randalierenden
Russen unterhalten und alles, was danach passiert war, passiert sein konnte oder hätte passieren können, mit keiner Silbe
mehr gestreift. Er hatte ihr versprochen, Kardakow zur Rede zu stellen. Wegen der noch ausstehenden letzten Monatsmiete, wegen
des Gerümpels im Keller und wegen des kaputten Schranks. Und weil er
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