Der nasse Fisch
Betrunkene brüllte unverständliches Zeug und versuchte
sich nach Kräften aus dem harten Griff zu befreien. Vergeblich. Rath stellte den Kerl in Position, ließ ihn los und gab ihm
einen kräftigen Tritt. Der Mann stolperte hinaus ins Dunkle, man hörte ihn im Treppenhaus gegen die gegenüberliegende Wohnungstür
prallen. Rath schlug die Tür zu, verriegelte sie und lehnte sich keuchend dagegen. Endlich! Endlich war dieser Idiot draußen!
Im Treppenhaus hörte er noch ein paar immer dumpfer klingende Rufe. Dann schlug unten die Haustür zu, und es war still.
»Ist er weg?«
Überrascht schaute Rath auf. Die Witwe Behnke hatte sich eine gehäkelte Stola über ihr dunkelblaues Nachthemd geworfen und
stand in der Tür, die vom Flur ins Speisezimmer und dann weiter in ihre Privaträume führte. Die Zimmerwirtin war Ende dreißig
und offensichtlich einsam. Ihr Blick sprach Bände. Und ihre Andeutungen ersetzten ganze Bibliotheken. Sie sah gar nicht mal
schlecht aus mit ihrem jugendlich naiv wirkenden Gesicht und den blonden Locken, in denen die wenigen silbernen Haare kaum
auffielen, doch er hatte ihren Avancen widerstanden. Etwas mit seiner Zimmerwirtin anfangen? Und dann noch mit einer, die
ihm jeden Damenbesuch untersagt hatte? Nein, über so etwas dachte er nicht einmal nach, das kam einfach nicht in Frage. Da
konnte sie noch so unauffällige Verführungsversuche starten. Jetzt ließ sie ihn ein Stück ihres üppigen Dekolletés sehen,
als sie sich aus der Tür lehnte und auf eine Antwort wartete. Er sagte nichts, er nickte nur. Er keuchte immer noch. Elisabeth
Behnke schien die Atemnot ihres Mieters zu gefallen.
»Kommen Sie, Herr Rath. Ich mach uns einen Tee. Mit Rum. Genau das Richtige auf den Schreck.« Sie schüttelte ihren Kopf. »Und
ich dachte, das mit diesen Russen hört jetzt endlich auf.«
Die letzten Worte machten ihn neugierig. Er folgte ihr in die Küche. Das war einmal ein großbürgerliches Speisezimmer gewesen,
doch seit Elisabeth Behnke untervermieten musste, hatte sie aus der früheren Küche ein Badezimmer für ihre männlichen Mieter
machen lassen und die Küchenzeile mit im Speisezimmer untergebracht.
»Meinen Sie damit, dass es in diesem Haus häufiger passiert, dass betrunkene Russen mitten in der Nacht in fremde Wohnungen
eindringen und randalieren?«, fragte er, nachdem er sich an den großen Esstisch gesetzt hatte.
Sie schaute ihn an. Achselzucken.
»Jedenfalls hat Ihr Vormieter öfter mal für unruhige Nächte gesorgt, so viel kann ich Ihnen sagen. Da hat es in Ihrem Zimmer
manchmal von Russen gewimmelt. Und immer haben sie bis tief in die Nacht gezecht und wurden dann laut.« Sie zündete den Gasherdan und stellte einen Wasserkessel auf die Kochstelle. »Manchmal könnte man glauben, es gibt mehr Russen als Deutsche in dieser
Stadt.«
»Manchmal habe ich den Eindruck, es gibt sowieso viel zu viele Menschen in dieser Stadt«, sagte er.
»Kurz nach dem Krieg, da kamen sie«, fuhr sie fort, »alle, die die Bolschewisten aus dem Land getrieben haben. Damals konnten
Sie in den Straßen von Charlottenburg mehr Russisch hören als Deutsch.«
»Das kann man in manchen Bars am Tauentzien auch heute noch.«
»Das mag sein, aber solche Etablissements besuche ich nicht. Gott sei Dank. Sie Ärmster haben ja beruflich dauernd mit diesem
Sündenpfuhl zu tun.« Sie hantierte geräuschvoll mit der Teekanne, als müsse sie gegen den Sündenpfuhl anklirren, und stellte
zwei Tassen auf den Tisch. »Ach ja«, fuhr sie fort. »Dabei hatte Herr Kardakow einen solch gepflegten Eindruck gemacht, als
er vor drei Jahren hier eingezogen ist.«
»Wer?«
»Ihr Vormieter. Herr Kardakow war Schriftsteller, müssen Sie wissen.« Der Kessel begann zu pfeifen. Sie goss heißes Wasser
in die Kanne. »Ein ruhiger Mieter, dachte ich. Was für ein Irrtum! Immer wieder gab es diese nächtlichen Exzesse.«
»Und mir haben Sie Damenbesuch untersagt.«
»Na, erlauben Sie! Ich spreche doch nicht von Damenbesuch! Herr Kardakow hatte immer nur Herren zu Gast. Die redeten und redeten
und tranken und tranken. Man hätte meinen können, dass sie mit Reden und Trinken ihr Geld verdienen.«
»Und mit was verdienten sie ihr Geld?« Rath war neugierig geworden.
»Ach, fragen Sie mich nicht! Ich will es, ehrlich gesagt, auch gar nicht wissen. Seine Miete hat Herr Kardakow aber immer
pünktlich bezahlt. Obwohl ich nicht weiß, ob er je ein Buch veröffentlicht hat. Jedenfalls
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