Der nasse Fisch
Gennat lobte ihn, weil er gestern die entscheidenden Zeugen aufgetrieben hatte. Doch das war Rath
jetzt alles egal, selbst Charlys Gegenwart ließ ihn heute kalt. Am liebsten wäre er zu Bruno Wolter ins Büro gestürmt, hätte
ihn an der Gurgel gepackt und so lange geschüttelt, bis der Scheißkerl endlich mit der Wahrheit rausrückte.
Stattdessen fing er Gennat direkt nach der Besprechung ab.
»Wenn Sie sich über Ihre heutige Aufgabe beschweren wollen: Vergessen Sie’s«, sagte der Buddha. »Strafe muss sein.«
»Nein, Herr Kriminalrat. Etwas anderes. Oberkommissar Wolter. Hat der einmal für die Inspektion A gearbeitet?«
»Sie haben die Akte aber gründlich gelesen.« Gennat nickte und schien nachzudenken. »Müsste einer seiner letzten Einsätze
für uns gewesen sein. Vor dem Unfall.«
Der Unfall! Rath wurde hellhörig. Auch Scheer hatte von einem Unfall gesprochen.
»Was für ein Unfall?«
»Sie waren doch Kollegen. Hat er Ihnen nichts davon erzählt?Na, eigentlich wundert mich das nicht. Böse Sache, das.« Gennat nahm ihn beiseite. »Bruno Wolter ist einer der besten Schützen
der Berliner Polizei. Er hat früher als Ausbilder am Schießstand gearbeitet.«
»Ich weiß. Und trotzdem war er für die Inspektion A im Einsatz?«
»Natürlich. Er war schon immer Kriminalbeamter. Nur eben einer mit besonderen Fähigkeiten. Wenn es irgendwo brenzlig zu werden
drohte, wenn man jemanden brauchte, der schießen konnte, dann wurde Wolter eingesetzt. Im Krieg war er Scharfschütze, gehörte
zum Kriegsende einer Spezialeinheit an.«
»Sollte man als Polizeibeamter den Schusswaffeneinsatz nicht nach Möglichkeit vermeiden? Da gibt es doch eine Dienstanweisung,
oder irre ich mich?«
»Dazu brauche ich keine Dienstanweisung, mein lieber Rath. Es gibt nichts, was ich mehr hasse, als unnötige Rumballerei. Gerade
deshalb ist es wichtig, jemanden dabeizuhaben, der weiß, was er tut.«
»Und Bruno Wolter ist so jemand?«
»Ja. Er war immer ruhig, ganz gleich, welches Chaos um ihn herum tobte. Manchmal reichte ein Schuss, und die Sache war erledigt.«
»Und der Verbrecher tot …«
»Wolter hat im Polizeidienst keinen einzigen Menschen getötet. Er hat die Saukerle, die unbedingt mit einer Waffe rumwedeln
mussten, für uns kampfunfähig gemacht. Und das sehr präzise. Es kam einem chirurgischen Eingriff näher als einem simplen Schuss.
Mit einer durchlöcherten Hand können Sie nicht mehr schießen, so einfach ist das. Und meine Leute konnten die wimmernden Pistolenhelden
dann einsammeln.«
»Und der Unfall?«
»Das ist ja das Tragische. Das ist nicht einmal bei einem Einsatz passiert. Dafür hätte jeder Verständnis gehabt, wenn da
mal was danebengegangen wäre. Nein, es war auf dem Schießstand. Einen jungen Polizeischüler hat’s erwischt. Thies hieß der
Junge, wennich das recht erinnere. Der beste Schütze seines Jahrgangs. War schon klar, dass er mit Wolter zusammen auf dem Schießstand
arbeiten sollte.«
»Und dann?«
»Die Umstände wurden nie ganz geklärt. Wahrscheinlich hatte Thies selber Schuld. Er half ja schon aus auf dem Schießstand
und kümmerte sich auch um ein paar kleinere Wartungsarbeiten. Eines Tages übte ein Trupp junger Schupos mit dem Karabiner.
Und plötzlich lag ein blutüberströmter zuckender Körper hinter der Zielscheibe.«
»Thies.«
»Richtig. Irgendwie muss er in die Schussbahn geraten sein. Als der Arzt eintraf, war er schon tot. Erschossen von den eigenen
Kameraden. Fünf Kugeln haben sie aus seinem Körper geholt.« Gennat hielt inne, als ließe ihn die Erinnerung heute noch erschauern.
»Wie gesagt, wahrscheinlich war der Junge selbst schuld. Doch Wolter übernahm die Verantwortung. Er selbst betrieb seine Versetzung
ins Sittendezernat. Da wird am wenigsten geschossen. Und auf dem Schießstand hat man ihn seitdem nie wieder gesehen.«
Von wegen Unfall , dachte Rath. Er musste an Jänickes Tod denken. Ob die IA Wolter schon einmal unter die Lupe nehmen wollte? Die Parallelen
waren augenfällig: Ein junger Mann, direkt von der Polizeischule, der mit Wolter zusammenarbeiten soll, stirbt einen gewaltsamen
Tod.
»Davon hat er mir nie etwas erzählt.«
»Davon spricht hier in der Burg niemand gerne. Ein tragischer Fall. Und außerdem hat die Polizei damals ihren besten Scharfschützen
verloren.«
»Der beste Kriminalbeamte jedenfalls war er damals nicht.«
»Sie meinen die Vernehmungsprotokolle?«, fragte Gennat. »Ist Ihnen
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