Der nasse Fisch
in Erinnerung: eingerahmt
von schwarzem Haar. Das Gesicht von Lana Nikoros. Von Swetlana Gräfin Sorokina.
Er stopfte die Münzen in die Hosentasche und stürzte hinaus, ohne sich um das überraschte Gesicht des Verkäufers zu kümmern.
Sie war Richtung Victoria-Park gegangen. Am Ende der Straße erhob sich grün der Kreuzberg, davor wippten die Köpfe der Passanten
wie ein wogendes Meer. Er versuchte, ihren blauen Hut in dem Gewimmel zu entdecken. Da waren eine Menge Hüte. Obwohl er das
Nachtblau nicht mehr sah, folgte er der Richtung, in der sie gegangen war. An der Kreuzbergstraße sah er gerade noch einen
blauen Hut im Park verschwinden. Der Weg wand sich den Berg hinauf, vorbei an einem Wasserfall, schließlich sah er sie auf
einer Bank sitzen. Sie wandte ihm den Rücken zu. Leise trat er näher.
»Gräfin Sorokina, wie ich vermute?«
Sie drehte sich um. Eine ebenso hagere wie hässliche blonde Frau blickte ihn an. Eine Frau, die er noch nie zuvor gesehen
hatte.
Sie schaute ihn an, als habe er den Verstand verloren. »Und wer wollen Sie sein?«, fragte sie. »Graf Koks oder der Kaiser
von China?«
Rath murmelte eine Entschuldigung, tippte kurz an den Hut und ging den Weg wieder hinunter.
War er einem Phantom hinterhergelaufen? Hatte seine Müdigkeit ihm einen Streich gespielt und ihm etwas vorgegaukelt?
Er musste sehen, dass er zum Wagen zurückkam, er hatte Gräf schon viel zu lange allein gelassen. Hoffentlich hatte der Kriminalassistent
keine schwache Blase.
Reinhold Gräf klappte auch das Fenster auf der Beifahrerseite auf, um frische Luft in den Wagen zu lassen. Wenn der Kommissar
wiederkäme, würde er ihn bitten, weniger zu rauchen. Lieber hätte er diese Schicht mit Charly abgesessen und nicht mit dem
Neuen. Auch wenn der gar nicht so schlimm war, wie Böhm immer erzählte. Man wurde nicht ganz schlau aus ihm, das stimmte schon.
Aber sonst schien er ganz in Ordnung zu sein. Wirkte nur ein bisschen überarbeitet. Und rauchte ziemlich viel.
Gräf genoss die frische Luft und steckte seinen Kopf aus dem Fenster. Es achtete ohnehin niemand auf ihn. Obwohl eine ganze
Menge los war auf der Straße. Vom nahenden Wochenende war in den Gesichtern der vorüberhastenden Passanten noch nichts zu
sehen, nur werktägliche Hektik. Autofahrer hupten nervös, wenn es ihnen nicht schnell genug voranging. Eigentlich kein Tag,
um in einem Auto zu sitzen und einen Hauseingang im Auge zu behalten. Aber so war der Polizeialltag eben: in erster Linie
langweilig. Mit Charly wäre diese Langeweile leichter zu ertragen gewesen.
Plötzlich tat sich etwas vor dem Haus, das er beobachtete. Ein Taxi hielt direkt vor dem Eingang. Ein kräftiger Mann stieg
aus, in der einen Hand einen Koffer, und als er dem Fahrer das Geld durchs Fenster reichte, wandte er Gräf eine Narbe zu,
die sich quer über eine Wange zog.
Mit einem Mal war die Langeweile verflogen. Aufgeregt kramte Gräf das Foto hervor. Kein Zweifel: dieselbe Narbe, derselbe
Mann!
Nikita Fallin war nach Hause gekommen!
Was sollte er jetzt tun? Gleich hinterher? Besser noch etwas warten, nicht die Nerven verlieren, der Kommissar müsste gleich
zurück sein. Wollte doch nur Zigaretten holen.
Ein Blick auf die Uhr. Viertel nach elf. Nach einer Zeit, die ihm vorkam wie eine halbe Stunde, schaute er noch einmal auf
die Uhr. Sechzehn nach elf.
Nein, er konnte nicht länger warten! Wenn ihm der Russe durch die Lappen ging, nur weil er auf den Kommissar wartete, würde
er sich das nie verzeihen!
Gräf überprüfte seine Pistole und steckte Handschellen ein. Dann stieg er aus und ging zum Haus hinüber. Würde er den Kerl
eben allein festnehmen. Kommissar Rath würde staunen, wenn er zurückkam! Der Kommissar holt Zigaretten, und der Kriminalassistent
nimmt mal eben einen Mordverdächtigen fest!
Er nahm die Pistole erst aus dem Holster, als er im Haus war. Im großen, schattigen Treppenhaus hörte er knarzende Schritte
ein paar Stockwerke weiter oben. Ob das immer noch Fallin war? Der wohnte im Vierten. Warum brauchte der Mann so lange? Hatte
er erst einmal in den Briefkasten geschaut? Die Post durchgeblättert? Gräf entsicherte für alle Fälle die Pistole und stieg
so leise es ging die Treppe empor. Für einige Augenblicke hörte er nichts als sein eigenes Atmen und das leise Knarren der
Stufen. Langsam arbeitete er sich vor bis in den zweiten Stock.
Dann klirrte oben ein Schlüsselbund, und gleich darauf hallte
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