Der nasse Fisch
Rath ihm kurz die Situation schilderte, hörte er interessiert zu. Völcker
nahm Mantel und Hut und griff einen Arztkoffer, der neben dem Schreibtisch stand. Die Sprechstundenhilfe schickte er nach
Hause.
»Wir schließen, es kommt sowieso niemand heute«, sagte er. »Es traut sich ja kein Mensch mehr auf die Straße, wenn die Polizei
da draußen ihre Schießübungen abhält.«
Dieser Satz hätte Rath stutzig machen sollen, doch er dachte sich nichts dabei. Die Wahrheit über Dr. Völcker erfuhr er erst,
als sie wieder in der Wohnung standen, wo der Onkel zurückgeblieben war, um den trauernden Witwer zu beruhigen. Wolter hatte
sich mit dem Mann, der sich inzwischen einigermaßen gefasst zu haben schien, an den Tisch im Wohnzimmer gesetzt.
»Wen hast du denn da angeschleppt?«, fragte Wolter, kaum hatte er den Arzt erblickt.
Völcker ignorierte den Oberkommissar genauso wie der ihn. DerArzt grüßte den Witwer kurz und drückte ihm sein Beileid aus, dann war er auf dem Balkon verschwunden.
Rath schaute verständnislos. »Ihr kennt euch?«, fragte er.
Wolter wartete, bis auch der Witwer auf den Balkon gegangen war, dann nahm er den Kollegen beiseite.
»Da hast du uns ja ein schönes Ei ins Nest gelegt«, begann er.
Schon nach den ersten Sätzen war Rath klar, dass das noch untertrieben war.
Dr. Peter Völcker war nicht nur Arzt und Dezernent am Gesundheitsamt Neukölln, er hatte zudem Sitz und Stimme im Bezirksrat
– als Mitglied der Kommunistischen Partei. In Polizeikreisen war der Mann berüchtigt, verschrien als Querulant, der mit Vorliebe
Untersuchungen einforderte und mit Klagen drohte, wenn Polizisten und Kommunisten mal wieder irgendwo aneinandergeraten waren.
Natürlich mit Klagen gegen Polizeibeamte.
»So eine Scheiße«, kommentierte Rath die kurze Schilderung der Person Dr. Peter Völcker.
»Präzise formuliert«, meinte Wolter, »aber nun nicht mehr zu ändern. Mach dir nichts draus.« Er klopfte dem Kollegen auf die
Schulter. »Komm, wir sollten den Kommunistendoktor nicht zu lange allein lassen. Wer weiß, was der uns alles in die Schuhe
schieben will.«
Als sie auf den Balkon traten, lagen die beiden Frauen genauso da, wie sie sie gefunden hatten. Der Doktor hatte sie offensichtlich
schon untersucht. Jetzt stand er an einer der hölzernen Sichtblenden, die den Balkon flankierten, und fummelte am Holz herum.
Der Witwer hatte sich wieder über die Leiche seiner Frau gebeugt.
»Wenn Sie fertig sind, Doktor, dann sollten Sie die Totenscheine ausfüllen«, meinte Wolter. »Die Leichen sollten nicht länger
als nötig hier liegen bleiben. Haben Sie den Tod festgestellt? Dann verschwenden Sie keine Zeit und kehren in Ihre Praxis
zurück. Da warten doch bestimmt noch einige Proleten, denen Sie die Hühneraugen entfernen sollen.«
»Immer langsam, mein lieber Kommissar«, erwiderte Völcker ungerührt. »Ich bin gerade dabei, die Todesursache festzustellen.«Er drehte sich um und präsentierte den beiden Polizisten ein großes spitzes Projektil. »Hier!«
»Was soll das?«, fragte Wolter. Rath merkte, dass der Kollege sich nur mit Mühe beherrschte.
»Das sollten Sie doch kennen. Eine Polizeikugel. Nicht die ersten Opfer, die Ihre Kollegen auf dem Gewissen haben.« Völckers
Ton hatte etwas unerträglich Selbstgerechtes, wie Rath fand. Den Witwer hatten die letzten Worte aus seiner Lethargie gerissen,
er horchte auf.
»Mein lieber Doktor!« Wolter wurde laut. Er wirkte wie ein Dampfkessel, bei dem sich die Sicherheitsventile öffneten und den
Überdruck zu einem zivilisierten Zischen bändigten. »Vielleicht kennen Sie die übliche Arbeitsteilung nicht. Aber weder ist
es Ihre Aufgabe, Spuren zu sichern, noch die, irgendwelche Schlussfolgerungen zu ziehen! Und schon gar keine voreiligen!«
Er riss dem Arzt das Projektil aus der Hand. »Ob das eine Polizeikugel ist, muss sich erst noch herausstellen, wir werden
…«
»Mörder!«
Der Witwer war aufgestanden. Sein Gesicht war nicht mehr bleich, sondern rot und wutverzerrt.
»Mörder!«, rief er wieder und stürzte sich auf Wolter. Rath riss ihn zurück und nahm ihn in den Polizeigriff.
»Beruhigen Sie sich doch«, sagte er. Der Mann zappelte zunächst noch, wurde aber ruhiger und fing schließlich an zu schluchzen.
Rath klopfte ihm tröstend auf die Schulter.
»Sehen Sie, was Sie angerichtet haben?« Jetzt brüllte Wolter wirklich. Völcker zuckte unmerklich zusammen.
»Ich? Ich habe diesen Mann
Weitere Kostenlose Bücher