Der nasse Fisch
einem Leichenwagen durch
Berlin und begleitete zwei tote Frauen ins Leichenschauhaus. Immer wieder wurde er in seinem Beruf mit dem Tod konfrontiert,
damit musste er sich abfinden, ganz gleich, in welcher Inspektion er Dienst schob. Das hatte er gewusst, als er sich für die
Arbeit bei der Polizei entschieden hatte. Seit dem Kölner Zwischenfall aber kam es ihm vor, als würde ihn jeder Tote, der
ihm begegnete, anklagen und mit Vorwürfen überschütten. Auch die beiden Frauen, obwohl er für deren Tod keinerlei Verantwortung
trug. Der Kommunistenarzt sah das freilich anders: Rath gehörte zur Polizei, die Polizei hatte die Frauen erschossen, die
Polizei war schuldig, also war auch der Kommissar schuldig.
Rath schaute aus dem Seitenfenster, als sie die Spree überquerten, ohne die Menschen auf der Weidendammer Brücke wahrzunehmen.
Das Schweigen zwischen ihm und Völcker war eisiger als zuvor. Es hatte keinen Sinn, mit dem Mann zu reden, sie lebten in unterschiedlichen
Welten. Der Fahrer hupte, als ein Passant die Friedrichstraße nicht schnell genug überquerte. Der Mann schaute sich erschrocken
um und blickte dem pietätlos rasenden Leichenwagen kopfschüttelnd nach. Am Oranienburger Tor bog der schwarze Wagen in die
Hannoversche Straße ein. Kurz darauf tauchte auf der rechten Straßenseite ein gelber Backsteinbau auf. Das Leichenschauhaus
der Charité empfing sie preußisch kalt und nüchtern. Unbeeindruckt, ein steingewordenes Schulterzucken. So viele Tote hatte
das Gebäude kommen und gehen sehen, tragischere Fälle als zwei Frauen, die auf einem Balkon erschossen wurden.
Der Fahrer kannte sich aus und nahm die Einfahrt mit Schwung. Hinten im Wagen polterten die Zinksärge. Sie hörten den Beifahrer
wieder fluchen.
[ Menü ]
7
A uf dem Marmortisch von Dr. Schwartz sahen die Toten erst richtig tot aus. Heute Morgen hatte Wilhelm Böhm noch gedacht, die
Aufnahmen, die Gräf von der Leiche aus dem Landwehrkanal gemacht hatte, würden sogar als Passfotos durchgehen – vorausgesetzt,
man wählte den richtigen Bildausschnitt und ließ die zermatschten Hände weg. Der Tote schaute fast freundlich. Nur die nassen,
etwas wirr in die Stirn hängenden Haare störten den Gesamteindruck.
Hier auf dem Tisch sah der tote Mann anders aus als gestern draußen am Kanal. Böhm warf einen Blick auf die Leiche, von der
nur der Kopf über das weiße Baumwolltuch lugte, das Dr. Schwartz über sie gedeckt hatte, und dann wusste er warum: Jetzt war
der Tote trocken.
Mit der Identifizierung waren sie trotz Gräfs passtauglicher Fotos noch keinen Schritt vorangekommen. Der Tote hatte keinerlei
Papiere bei sich gehabt. In den Taschen seines schicken schwarzen Zweireihers fand sich nichts, aber auch gar nichts. Das
hatte Böhm in all seinen Dienstjahren noch nicht erlebt. Selbst Opfer von Raubmorden hatten zumindest ein Taschentuch, ein
Stück Bonbonpapier oder sonst etwas dabei, das einen kleinen Anhaltspunkt gab. Doch der Anzug des Toten aus dem Kanal war
so unschuldig rein und leer, als trage ihn eine Schaufensterpuppe. Auch das Auto hatte ihnen nicht weitergeholfen. Der Horch
war auf einen Dr. Bernward Römer zugelassen. Der war quicklebendig und hatte den Wagen vor eineinhalb Wochen im 113. Polizeirevier
als gestohlen gemeldet.
Wenigstens hatte Charly entdeckt, dass der Wagen schon in der Möckernstraße an einem parkenden Auto entlanggeschrammt war.
Und er selbst hatte im Fußraum diese Metallstange gefunden, die er zunächst für ein defektes Autoteil gehalten hatte, ein
Stück von der Lenkstange etwa, irgendetwas, das den Unfall hätte verursachen können. Doch an dem Wagen fehlte nichts. Abgesehenvon den Beulen, die vom Aufprall auf die Uferbegrenzung stammten, war der Horch fast wie neu. Dabei lag die Lösung so nah:
Die Stange war nichts anderes als der Hebel, mit dem irgendjemand das Gaspedal festgekeilt hatte. Damit auch ein toter Mann
Auto fahren konnte. Gräf und Charly waren noch dabei, die Herkunft der Metallstange zu klären.
Heute Morgen hatten sie damit begonnen, im Karree zwischen Möckernstraße, Tempelhofer Ufer und Großbeerenstraße nach weiteren
Zeugen des Unfalls zu suchen. Viele Männer hatte Böhm auch heute dafür nicht bekommen. Die meisten Einsatzkräfte waren in
Neukölln oder im Wedding und räumten in den Unruhegebieten auf. Mit den Maiunruhen hatte der Unfall am Landwehrkanal wohl
nichts zu tun. Böhm nannte es immer noch Unfall,
Weitere Kostenlose Bücher