Der nasse Fisch
nicht zum Witwer gemacht«, antwortete der Arzt.
»Wollen Sie damit andeuten, dass ich …«
»Bruno!« Rath befürchtete, gleich auch noch Wolter festhalten zu müssen. Der Onkel hielt mitten im Satz inne und drehte sich
zu ihm um. Er sah aus, als wolle er dem Kommunistendoktor im nächsten Moment an die Gurgel gehen, hatte sich aber gleich darauf
wieder halbwegs im Griff.
»Mein lieber Doktor«, fuhr Wolter fort, »als Wissenschaftler sollten Sie eigentlich unvoreingenommen an solch eine Aufgabe
herangehen. Ich weiß nicht, ob Sie für diese Arbeit der richtige Mann sind.« Er wandte sich an Rath. »Ruf Doktor Schwartz
von der Charité an. Der soll die beiden Leichen untersuchen, der hat mehr Erfahrung auf diesem Gebiet.«
Rath ließ die beiden Streithähne allein. Wenig später stand er wieder im Laden von Wilhelm Prokot. Der Fleischermeister grinste
breit, als er den Polizisten zum Telefon führte.
»Und?«, fragte er. »Konnte der Doktor Ihnen helfen?«
Keine Frage, dass Prokot genau wusste, welchen Gefallen er der Polizei mit Dr. Völcker getan hatte. Rath hätte am liebsten
mit der Faust mitten in das grinsende Gesicht geschlagen. Aber er beherrschte sich und ließ sich mit der Charité verbinden.
Der schwarze Wagen fuhr so schnell, als sei den beiden Frauen hinten in den Zinksärgen noch zu helfen. Rath schaute zum Fahrer
hinüber. Seit sie das Sperrgebiet verlassen hatten, drückte der Mann auf die Tube wie ein Fluchtwagenfahrer.
»Langsam«, meinte Rath, »zwei Leichen reichen doch wohl.«
Der Fahrer nuschelte eine unverständliche Antwort und ging ein wenig vom Gas. Eher widerwillig. Vorhin schon hatte er gemeckert,
als er hörte, dass es ins Leichenschauhaus der Charité ging. Dr. Schwartz war unabkömmlich und ließ sich die beiden toten
Frauen bringen. Wolter war in der Wohnung zurückgeblieben, Rath musste im Leichenwagen mitfahren. Zwischen ihm und dem Fahrer
saß Dr. Völcker auf der schlecht gepolsterten Bank. Der rote Doktor hatte darauf bestanden mitzufahren, und Wolter hatte eingewilligt.
So war der Onkel den lästigen Querulanten losgeworden. Und Rath hatte ihn am Hals.
Der Beifahrer hatte geschimpft, als er hörte, wer den Transport alles begleiten sollte: »Det is keen Mannschaftswagen, det
issen Leichenwagen!« Murrend hatte er seinen Platz geräumt und saß nun hinten zwischen den schaukelnden Zinksärgen. Bei jeder
Kurve hörten sie seine kaum unterdrückten Flüche. Der Fahrer schienseine Wut am Gaspedal auszulassen. Auch Rath hatte sich ein paar Mal festhalten müssen.
Obwohl er die Augen geöffnet hatte, nahm er die Welt, die an den Autofenstern vorbeiflog, kaum wahr. Er sah den Verkehr auf
dem Kottbusser Damm, er sah die freitägliche Geschäftigkeit in der Oranienstraße, doch das kam ihm vor wie ein Traum und nicht
wie die Wirklichkeit. Seit sie endlich aus Neukölln raus waren, hatte die Stadt ihr Gesicht verändert. Alles wirkte wieder
normal. Und die Normalität gleichzeitig unwirklich. Kaum zu glauben, dass nur wenige Kilometer entfernt der Ausnahmezustand
herrschte, dass geschossen wurde, dass Menschen starben. Das Bild der toten Frauen hatte sich in Raths Kopf festgebrannt.
Die jüngere war nur sechsundzwanzig Jahre alt geworden, die ältere fünfzig. Ihre Ausweispapiere lagen so schwer in der Innentasche
seines Mantels, als wären sie auf Blei gedruckt.
Seit der Leichenwagen in der Hermannstraße losgefahren war, hatte Rath noch kein Wort mit Völcker gewechselt. Er betrachtete
den Arzt aus den Augenwinkeln, eine hagere Gestalt in einem zerknitterten grauen Mantel, der ein wenig zu groß wirkte. Graue
Bartstoppeln schimmerten an seinem spitzen Kinn, die Augen blickten nur nach vorn auf die Straße, als gebe es rechts und links
neben ihm niemanden.
Es war Raths Neugier, die das Schweigen endlich brach. Er musste eine Frage stellen, die ihm die ganze Zeit schon auf den
Lippen lag. »Sie sind doch Arzt«, fragte er so unvermittelt, dass Dr. Völcker kurz zusammenzuckte, »warum sind Sie dann Kommunist
geworden?«
Zum ersten Mal, seit sie Neukölln verlassen hatten, schaute Völcker ihn an. »Das passt wohl nicht in Ihr Weltbild, was?«
Rath ärgerte sich über den selbstgerechten Ton, den der Arzt anschlug. Und noch mehr ärgerte ihn, dass Völcker in gewisser
Weise Recht hatte. Tatsächlich hatte es Rath immer schon gewundert, wenn Akademiker sich Kommunisten schimpften. Er verstand
nicht viel von Politik.
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