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Der nasse Fisch

Der nasse Fisch

Titel: Der nasse Fisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
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hasteten sie die Treppe hoch. Die Tür zu einer Wohnung im ersten Stock stand offen,
     sie stürmten hinein. Kleinbürgerliche Biederkeit und Behaglichkeit empfing sie, alles in diesen Räumen stand sauber an seinem
     Platz. Sie schauten sich suchend um. Kein Mensch zu sehen, keine Stimme mehr zu hören. In der Nachbarwohnung sang Richard
     Tauber mit kratzender Grammophonstimme, als gingen ihn die Ereignisse draußen nichts an. Durch die offene Balkontür drang
     der Lärm der Straße. Ab und zu hörte man ein Rufen, nur noch vereinzelt fielen Schüsse. Das Räumkommando entfernte sich. Ein
     leiser Wind bauschte den langen Vorhang auf und ließ ihn ins Zimmer hineinwehen.
    Zwei Frauen lagen auf dem Balkon. Friedlich, als würden sie schlafen. Doch sie schliefen nicht, Blut sickerte aus Wunden an
     Kopf und Brust. Der Schrei musste von dem Mann gekommen sein, der sich über die ältere der beiden beugte. Sie erkannten den
     Mann, der ihnen eben noch die Tür geöffnet hatte. Er schrie nicht mehr, er weinte stumm. Den Kopf der Toten auf seinen Schoß
     gelegt, streichelte er ihr immer wieder durch das blutige Haar. Leise, kaum hörbar, fand er seine Sprache wieder.
    »Martha«, sagte er. Immer nur dieses eine Wort: »Martha!«
    Rath spürte, wie sich ein Kloß in seinem Hals festsetzte, der immer dicker wurde.
    Es drang kaum Tageslicht in das Ladenlokal, die Schaufenster waren von außen mit Brettern vernagelt. Der Mann hinter der Ladentheke
     sah eigentlich gar nicht aus wie ein Fleischermeister. Viel zu dünn, bleiches Gesicht, eingefallene Wangen. Nur die Blutspritzer
     auf dem weißen Kittel zeugten von seinem Beruf.
    Und seine Begrüßung.
    »Sie wünschen?«, fragte er.
    »Polizei«, sagte Rath und zeigte seinen Ausweis.
    Eine Viertelstunde war er nun unterwegs. Niemand in der Hermannstraße schien ein Telefon zu besitzen. Und der einzige öffentliche
     Fernsprecher, den er gefunden hatte, funktionierte nicht. Erst in der Fleischerei Wilhelm Prokot war er fündig geworden, an
     der Ladentür hing ein Schild mit einem Telefonsymbol. Telefonieren, stand darunter, 20 Pfg. pro Gespräch . Doppelt so teuer wie ein öffentlicher Fernsprecher, aber immerhin hatte er überhaupt einen Apparat gefunden.
    »Und ich hab mich schon gewundert, dass jemand bei dem Geballere da draußen noch einkaufen geht«, brummte der Fleischer. »Wollense
     den Laden mit Ihre Leute besetzen?«
    Rath schüttelte den Kopf. »Ich müsste nur mal telefonieren.«
    »Hinten.« Der Fleischer deutete mit dem Kopf auf eine Tür. »Is aber nich für umsonst.«
    »Keine Bange, ist ein dienstliches Telefonat. Der Staat zahlt.«
    Rath folgte dem Mann nach hinten. An der Wand im Durchgang hing ein Telefon. Rath ließ sich mit der Hermannstraße 207 verbinden.
     Der Fleischer blieb neugierig in der Tür stehen.
    »Haben Sie nichts zu tun?«, herrschte Rath den Mann an.
    »Nee«, sagte Prokot, »Ihre Kollegen vajraulen mir ja die jesamte Kundschaft.« Dann verzog er sich wieder in den Laden.
    Glücklicherweise war der Anschluss nicht besetzt. Ein Hauptwachtmeister meldete sich, und Rath ließ sich einen Offizier von
     der Einsatzleitung geben. In knappen Worten berichtete er von dem tödlichen Zwischenfall und erhielt ebenso knappe Instruktionen:
     Personalien feststellen, Spuren sichern, Zeugen vernehmen. Die Leichen ärztlich untersuchen und dann abtransportierenlassen. Abläufe, die ihm von seinen früheren Mordermittlungen längst vertraut waren. Es ärgerte ihn, dass sie ihn hier wie
     einen Anfänger behandelten.
    »Können Sie mir hier einen Arzt empfehlen?«, fragte er, als er dem Fleischer die zwei Groschen in die Hand drückte.
    »Wo tut’s denn weh?«
    Rath konnte dem Berliner Humor nicht viel abgewinnen. Er ignorierte die dumme Bemerkung. »Also«, sagte er nur und gab sich
     keine Mühe zu verbergen, dass er ziemlich gereizt war.
    »Sie haben Glück«, sagte der Fleischer. »Gleich oben im Haus issen Arzt.«
    Die Praxis befand sich direkt über dem Fleischerladen. Dr. Peter Völcker, Praktischer Arzt stand auf dem Schild neben der Praxistür. Das Wartezimmer war leer. Die Sprechstundenhilfe am Empfang schaute überrascht,
     als er seine Blechmarke zeigte. »Ein Notfall«, sagte er kurz, »ich brauche einen Arzt.« Die Frau führte ihn ins Sprechzimmer.
     Dr. Völcker saß an seinem Schreibtisch und füllte gerade irgendwelche Formulare aus. Der Arzt war noch hagerer als der Fleischer
     und machte einen strengen, asketischen Eindruck. Als

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