Der nasse Fisch
Füßen zugezogen? Ein wirklich seltsamer Fall, dachte Rath. Ein seltsamer Fall, der ihn nicht
zu interessieren hatte.
Am Oranienburger Tor ließ er die U-Bahn-Treppe links liegen. Stattdessen zündete er sich noch eine Zigarette an und ging weiter
zum Bahnhof Friedrichstraße. Die Menschenmenge auf der Weidendammer Brücke war größer geworden, seit der Leichenwagen hier
vorübergefahren war. Die meisten hatten jetzt Feierabend, waren auf dem Weg nach Hause oder in die nächste Kneipe, dachten
schon an das Abendessen, an die Familie, an die Frau, an ein Bier mit ein paar Freunden. Hier war die Stadt erschreckend normal.
Wer von diesen Menschen konnte sich vorstellen, was in Neukölln und im Wedding los war? Ob in der Hermannstraße immer noch
geschossen wurde? Die Ereignisse des heutigen Tages waren Rath auf den Magen geschlagen, und erst jetzt merkte er, dass er
den ganzen Tag nichts gegessen hatte. Auch hier gab es eine Aschinger-Filiale, direkt hinter der Bahnunterführung in der Friedrichstraße.
Rathbeschloss, eine Kleinigkeit zu essen, bevor er nach Hause fuhr. Und ein Bier zu trinken. Oder zwei. Das konnte er jetzt gebrauchen.
Er schnippte seine Zigarettenkippe in die Spree und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Vor dem Bahnhof Friedrichstraße
riefen die Zeitungsjungen die Schlagzeilen des Abends aus. »Neue Barrikadenschlachten!« – »Weitere Tote bei kommunistischen
Unruhen!« – »Wird Rotfrontkämpferbund verboten?«
»Seltsam!«
Elisabeth Behnke hob das zerbrochene Vorhängeschloss von dem feuchten Kellerboden auf und betrachtete es. Irgendjemand hatte
den Bretterverschlag aufgebrochen.
»Das ist mein Schloss«, erklärte sie, als sie seinen fragenden Blick bemerkte. »Ich hab seinen Keller zugesperrt, vor zwei,
drei Wochen erst. – Schließlich soll er seine Sachen hier nicht klammheimlich rausholen, ohne mir die letzte Miete bezahlt
zu haben.«
Sie hielt ihm das billige, verbogene Messingschloss hin. »Wer es wohl aufgebrochen hat?«, fragte sie und schaute ihn an, als
wüsste ein Polizist auf solche Dinge immer eine Antwort.
Rath zuckte mit den Schultern und trat an ihr vorbei in den Keller seines Vormieters. Modergeruch hing in der Luft. Der Verschlag
war dunkel. Von der schummrigen 40-Watt-Birne der Kellerlampe drang kaum Licht hinein. Seine Augen mussten sich erst an die
Dunkelheit gewöhnen.
»Wann warst du denn das letzte Mal hier unten?«, fragte er.
Elisabeth Behnke überlegte. »Letzte Woche vielleicht.«
»Und da war das Schloss noch nicht aufgebrochen?«
»Keine Ahnung. Darauf habe ich nicht geachtet. Mein Keller ist doch da drüben.«
Sie zeigte auf ein paar wacklige Regale, in denen Einmachgläser vor sich hin staubten. Daneben stand eine große Kartoffelkiste.
»Hat Kardakow denn noch einen Haustürschlüssel?«
»Natürlich nicht.«
»Dann war er wohl auch nicht hier und hat etwas herausgeholt.«
»Sieht nicht so aus, als hätte hier überhaupt jemand was abgeholt.«
Sie hatte Recht. Bis zur Decke stapelte sich das Gerümpel. An der Rückwand ein alter Schrank, daran lehnten einige gerahmte
Bilder, an der Seitenwand stand ein rostiges Fahrrad, vor allem aber standen da Kisten. Kisten über Kisten.
»Wie lange hat der hier gewohnt?«, fragte Rath.
Sie zuckte die Achseln. »Vielleicht drei Jahre.«
»Drei Jahre, und dann so viel Müll!« Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das muss einmal fachmännisch durchkämmt werden.
Die richtige Aufgabe für einen Polizisten.«
Sie nickte. »Ich geh nach oben und koch uns einen Tee«, sagte sie und ließ ihn allein. Er versuchte, nicht daran zu denken,
was solch eine Ankündigung bei ihr heißen konnte, und hob die erste Kiste vom Stapel.
Es war seine Idee gewesen, in den Keller zu schauen. Seine Neugier auf Kardakow war enorm gewachsen. Seit dem unerwarteten
Zusammentreffen mit dem toten Boris im Leichenschauhaus. Der Anblick des zerschundenen Körpers ging ihm nicht aus dem Kopf.
Das Leichenschauhaus. Vor wenigen Stunden noch hatte das schlechte Gewissen an ihm genagt, wegen seines Schweigens. Dann hatte
er in der Friedrichstraße bei Aschinger an der Theke gesessen und das Gewissen mit ein paar Bieren betäubt. Und sich alles
noch einmal gründlich durch den Kopf gehen lassen, versucht, die Dinge möglichst sachlich zu sehen, so, wie sie nun einmal
geschehen waren. Und erkannt, dass es ein Wink des Schicksals war. Er wusste etwas mehr als die Mordkommission, er
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