Der nasse Fisch
wusste,
dass der Tote in dieser Stadt jemanden gesucht hatte. Vielleicht war das seine Chance. Warum sollte er die nicht nutzen? Darauf
kam es doch an im Leben. Die Chancen sehen und sie ergreifen. Er musste an Brunos Worte denken. Gennats Truppe ist handverlesen. Um da reinzukommen, muss man einen echten Knüller landen. Nein, er würde Böhm nicht den Gefallen tun und dem Mordermittler sein spärliches Wissen über den Toten anvertrauen. Er würde
keinen Verstoß gegen die Dienstvorschriften eingestehen, im Gegenteil:Er würde dem Polizeipräsidenten einen gelösten Fall auf den Tisch legen. Und dazu musste er erst einmal mehr über seinen mysteriösen
Vormieter erfahren. Praktisch, wenn man mit der Suche im eigenen Keller anfangen konnte.
Nach einer halben Stunde standen alle Kisten geöffnet vor dem Bretterverschlag. Die meisten hatten Bücher enthalten. Bücher
über Bücher, fast alle auf Russisch. Nicht einmal die Titel konnte Rath entziffern, mit kyrillischer Schrift kannte er sich
nicht aus. Allein ein Bildband über Sankt Petersburg sagte ihm etwas. Oder Leningrad, wie man heute sagte. Er wunderte sich,
dass ein Schriftsteller seine Bücher so lange im Stich lassen und im Keller einlagern konnte. Eine einzige Kiste war mit persönlichen
Dingen gefüllt. Ein paar Briefe, mit denen er nichts anfangen konnte, auch sie allesamt in Russisch, das Einzige, was er halbwegs
entziffern konnte, war das Datum. Ihm fiel auf, dass sie nicht in chronologischer Folge geordnet, sondern wild durcheinander
gebündelt waren. Mitten im Briefstapel lagen Programmhefte des Delphi-Palastes in der Kantstraße. Die Künstlerin Lana Nikoros, die dort groß angekündigt wurde, zeigte auf dem Foto ein geheimnisvolles
Lächeln. Verglichen damit konnte die Mona Lisa einpacken. Kardakow schien ein Anhänger der Sängerin zu sein, er hatte die
Programme mehrerer Monate gesammelt, Oktober 1928 bis März 1929.
Einige Manuskriptseiten hatte Rath außerdem gefunden. Kardakow musste über eine Schreibmaschine mit kyrillischen Typen verfügen,
aber die hatte er mitgenommen, im Keller jedenfalls war sie nicht. Unter den Manuskripten lag eine Mappe mit Fotos. Porträts
eines jungen Mannes. Über einer großen Nase lagen dunkle Augen tief in ihren Höhlen. Eingefallene Wangen und ein traurig verzogener
Mund, elegant geschwungene Lippen. Dieses Gesicht hatte fast etwas Feminines. Rath vermutete, dass Alexej Iwanowitsch Kardakow
höchstpersönlich ihn da anblickte. Der Mann wollte aussehen wie ein Dichter, und so sah er auch aus. Schwermütiger Russenblick.
Rath nahm die Fotos an sich, steckte auch eines der Delphi-Programmhefte ein, packte den restlichen Plunder wieder zurück
inden Keller und stieg die Treppe hoch. Viel hatte er nicht gefunden, nichts, was ihn wirklich weiterbrachte, aber es war ein
Anfang.
Elisabeth Behnke schaute enttäuscht, als Rath nach einer Tasse Tee – ohne Rum – wieder aufstand und nach Hut und Mantel griff.
»Wir haben halb zehn«, sagte sie. »Wo willst du denn um diese Zeit noch hin?«
»Es ist Freitag«, sagte er. »Ich gehe tanzen.«
»Mit wem?« Sie klang tatsächlich etwas eifersüchtig.
Er zeigte ihr das Foto von Kardakow.
Die Nacht war weit vorangeschritten. Düster ragte die Silhouette der Gedächtniskirche aus dem hell erleuchteten Häusermeer.
Die monströse Kirche war das einzige Bauwerk in dieser Gegend, das nicht im Neonlicht ertrank. Sie schien die Nachtschwärmer
allein durch ihre Anwesenheit ermahnen zu wollen. Dunkel schweigende Steinberge inmitten all des nächtlichen Lärms. Rath ließ
die Kirche rechts liegen und ging den Kurfürstendamm hoch, quetschte sich durch eine Gruppe laut lachender Touristen, denen
ihr Alkoholpegel deutlich anzumerken war. Rath tippte auf die Gegend um Stuttgart. Jedenfalls hörte er einen starken süddeutschen
Akzent, als einer der Männer einer jungen Frau, die gerade vorüberging und schüchtern zur Seite blickte, ein unsittliches
Angebot machte.
»Lern erst mal Deutsch, wennde willst, dass dich eene entjungfert«, gab die Frau zurück, die plötzlich gar nicht mehr schüchtern
wirkte.
Das schwäbische Großmaul bekam rote Ohren und schwieg pikiert, seine Begleiter lachten albern. Rath ärgerte sich. Aus irgendeinem
Grund schienen fast alle Provinzler zu glauben, in Berlin die Sau rauslassen zu müssen. In gewisser Hinsicht war er froh,
dass bis auf seine Eltern kein Mensch aus Köln wusste, dass er nun
Weitere Kostenlose Bücher